Autor | Marcel Hänggi |
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Verlag | Fischer Taschenbuch |
Umfang | 302 Seiten |
ISBN | 978-3-596-03220-4 |
Preis | Fr. 19.50 (UVP) |
Es ist ja tatsächlich beeindruckend, was der menschliche Erfindungsgeist sich so alles einfallen liess, gerade im Hinblick auf die letzten paar Jahrhunderte: Da geschieht scheinbar Jahrzehntausende lang nicht viel – Faustkeil, Faustkeil, Faustkeil, vielleicht mal eine Nähnadel – bevor die imaginäre Diagrammkurve der technischen Neuerungen erst vorsichtig, dann immer steiler ansteigt, bis sie schliesslich nahezu senkrecht abhebt wie anno dunnemal die Apollo-Mondraketen. Doch ist diese Sichtweise des Fortschritts als Patentamtsstatistik eigentlich korrekt? Verbirgt sie nicht ähnlich viele Rückschritte und kulturelle, ökologische oder soziale Einbussen, und verstellt sie nicht den Blick auf mögliche, vielleicht gar schonendere, Entwicklungspfade, die sich alternativ dazu hätten auftun können?
Im ersten Teil seines neuen Buches geht der Historiker und Wissenschaftsjournalist Marcel Hänggi anhand sieben historischer Neuerungen diesen Fragen nach. Mit dem gutenberg'schen Buchdruck mit beweglichen Lettern und der Dampfkraft nimmt er sich zum Auftakt zwei davon zur Brust, die in wohl jeder Auflistung technischer Meilensteine anzutreffen sind. Doch auch unscheinbarere Innovationen wie die Kleesaat oder der Schwefeläther finden seine Aufmerksamkeit, um hierüber beispielhafte agrarische bzw. medizinische Entwicklungspfade, stets auch vor dem spezifisch schweizerischen Hintergrund, zu durchleuchten. Er zeigt uns dabei mehrfach auf, dass die Vorstellung des Fortschritts als einer geraden Linie in eine – wahlweise – segensreiche oder apokalyptische Zukunft einer tiefschürfenden Hinterfragung kaum standhält. Immer legt er dabei auch dar, wie anderen denkbaren Entwicklungen durch die Konzentration auf diese eine, dem Zeitgeist gerade opportune Lösung der Weg verstellt wurde, und hinterfragt mit dem Mut zu ungewohnten Gedankengängen ihren tatsächlichen Nutzen.
Akademische Gedankenspiele? So könnte man denken, ginge es zurzeit nicht mit grosser gesellschaftlicher Relevanz um die möglichst vorurteilslose und vorausschauende Einschätzung von neuen oder neu-alten Techniken. Die Energiewende ist hier nur ein Stichwort.
Dem entsprechend ist die Kernfrage von Marcel Hänggis Analyse und Denkschrift: Welche Technik wollen wir? Er konstatiert uns bezüglich ihrer Beantwortung eine unselige Behinderung: Die fehlende Übung darin nämlich, Technik und Technikgeschichte kritisch zu würdigen. Dieser Fertigkeit und einer darauf aufbauenden gesellschaftlichen Diskussion neuer Technologien aber bedürften wir, um zu einer nachhaltigen Entwicklung zu gelangen. Um dieser Kritikfähigkeit Vorschub zu leisten, stellt er uns im zweiten Teil seines Buches anhand von fünf Stichworten nutzbringende Mechanismen und Treiber eines technischen Wandels vor, die sich keines Entweder-Oder, keines grundsätzlichen 'für' oder 'gegen' Fortschritt oder Wachstum bedienen, um hier fassbare Lösungen zu erarbeiten. Ganz in diesem Sinne nähert er sich dann im letzten Teil seines Buches auch den Utopien einer nachhaltigen Gesellschaft – dem derzeitigen Leitmotiv der verdienstvollen Buchreihe des Forums für Verantwortung, in der das Taschenbuch erscheint – mit nachdenklicher Zurückhaltung. Die Utopie, die er uns schliesslich darreicht, ist zwangsläufig keine ökologische Heilsvision "aus einem Guss", sondern ein Mosaik einzelner, wandelbarer und regional abgestimmter Lösungen und Wertebekenntnisse, die aber dennoch unter den Motiven von Suffizienz, Dezentralisierung und Entschleunigung zur zielführenden Wegweisung zusammenfinden.
In einer Zeit, da sich die ohnehin noch nicht trittsichere Nachhaltigkeitsbewegung in zwei Lager von "Technikgläubigen" einerseits und "Naturromantikern" andererseits aufzuspalten droht, ist diese Haltung von Differenziertheit und kritischem Pragmatismus eine fruchtbar verbindende und deshalb ungemein wertvolle. Gewiss stiessen wir, vorwiegend in seinen technikhistorischen Ausführungen, auf den einen oder anderen Gedanken, den wir nicht nachvollziehen konnten. So dachten wir uns beispielsweise, während er die Verquickung des Fortschrittsmotors Buchdruck mit den eher fortschrittsfeindlichen Werthaltungen der Reformation erörtert, dass er hier Äpfel mit Birnen vergleicht. Andere Leser mit anderen 'Spezialgebieten' werden wahrscheinlich auf ähnliche Irritationen stossen. Doch darum geht es nicht. Es geht Marcel Hänggi darum, uns frische, unkonventionelle Horizonte für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Technologien zu öffnen und ganz insgesamt unser Bewusstsein dafür zu bestärken, keine Sklaven unserer Technik zu sein. Diese Unternehmung gelingt ihm meisterhaft und – dank seiner anregend streitbaren und deutlichen Sprache – auch durchweg eingängig. Sein Buch ist, egal ob man nun dem Technikoptimismus oder der Wachstumskritik zuneigt, einer jener seltenen Tritte vors Schienbein, für die man sich anschliessend eifrig bedankt.
Rezension: Sacha Rufer
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