Autor | Jan Cornelius Schmid |
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Verlag | Hirzel Verlag |
Umfang | 360 Seiten |
ISBN | 978-3-7776-2410-5 |
Preis | Fr. 43.90 (UVP) |
Sternen- und Planetenbewegungen, die Zyklen der Jahreszeiten und des Lebens überhaupt, bis hinunter zum Aufbau von Molekülen und dem Verhalten von Atomen: Zu weiten Teilen betrachten und interpretieren wir die Natur als verlässlich, stabil - einen Reigen von Kausalitäten. Doch im Hintergrund lauern schon ein ganzes Weilchen der Schmetterlingseffekt und die Chaostheorie, die Unschärferelation und die Entropie, Emergenz und Komplexität. Die Natur (besonders auch die lebendige Natur), so zeigt sich, ist dann Natur, wenn sie zur Instabilität fähig ist. Denn ohne die Fähigkeit zur Instabilität wären da keine Ereignisse, keine Variabilität und Flexibilität, im Endeffekt keine Selbstorganisation. In die Naturwissenschaften und in unsere alltägliche Naturrezeption sind diese Erkenntnisse und Anschauungen gleichwohl erst zögerlich eingesickert. Das mag einen Grund darin haben, dass Chaos erst einmal bedrohlich wirkt. Nicht ganz zu Unrecht: Wenn Falter mit einem Flügelschlag Hurrikane auslösen, dann sollten wir vielleicht ein argwöhnisches Auge auf Schmetterlinge werfen, nicht wahr? In seinem Buch zeigt uns Jan Cornelius Schmid, dass diese destruktive Kraft der Instabilitäten keineswegs ihre einzige ist, und dass deren andere Seite, das Andere der Natur, gar als treibender Quell des Lebens betrachtet werden kann. Bezüglich der konstruktiven Implementierung und Wahrnehmung ihrer Qualitäten in den Naturwissenschaften sieht er grosses Potential in einer erneuerten, aktiven, die kontroversen Fragen und den Wandel des Natur- und Wissenschaftsverständnisses überdisziplinär zusammenführenden Naturphilosophie.
Um uns die etwas ausser Blick geratenen Grundlagen und Vordenker der Naturphilosophie zugänglich zu machen, begibt er sich auf ausgreifende Streifzüge durch die Wissenschaftsgeschichte. Er flaniert natürlich nicht ziellos: Den Fokus der Interpretation, Betrachtung und Erklärung der unbehaglichen, aber produktiven Realität von Instabilitäten im Weltgefüge behält er stets im Blick. Gleichwohl darf man anmerken, dass man von seinem Buch nicht nur bezüglich dieser spezifischen Thematik profitieren kann. Ebenso eröffnet sich dabei ein intimer Einblick in die allgemeineren Belange, Standpunkte und Gesinnungen der Wissenschaften und der Naturphilosophie im Wandel der Zeit. Und genau diese lebendigen Mechanismen des Wandels prägen sich uns dann anschaulich ein, wenn er ihnen in die einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen von Astronomie, Mathematik, Technik, Physik oder Ökologie, aber auch kulturwissenschaftlicher Wirkstätten etwa der Ethik und Ästhetik nachspürt.
Nun ist Jan Cornelius Schmidt promovierter Physiker und habilitierter Philosoph. Als solcher stellt er für das hypothetische Publikum unserer Buchbesprechungen, das wir uns gern als lesebeflissene Schar von neugierigen Laien imaginieren, eine etwas grössere Herausforderung dar. Wenn sich nämlich die wissenschaftlichen Disziplinen zum Stelldichein zusammenfinden, erkunden ihre Fachidiome gern labyrinthische Unterwelten. Insgesamt hält der Autor die Konsistenz seiner Begriffsdefinitionen zwar hoch, aber einer Eingewöhnung bedarf seine Sprache doch, und auch dem Anspruch der wissenschaftlichen Präzision mag er nicht beherzt ausweichen. Sein Buch ist also, kurz gesagt, nicht die flüssigste Lektüre.
Wir hatten auch vereinzelte Bedenken hinsichtlich der Praktikabilität der Instabilitätsintegration in die Forschung: Sie scheint uns die Gefahr einer Beliebigkeit der wissenschaftlichen Theoriebildung zu bergen. Weiter regt der Autor in unserem speziellen Interessengebiet, der Ökologie, an, einen phänomenologisch-morphologischen Zugang zu finden, der sich mehr auf die 'mittleren' Lebensphänomene anstatt Mikro- bzw. Makrokosmos konzentriert. Doch gerade bezüglich der systemischen Komplexität von Ökosystemen und Lebensäusserungen kann dieser Ansatz in die Falle der 'Anschaulichkeit', der Fehlinterpretation auf Grund des äusseren Anscheins, führen. Ansonsten sind wir gerade von seinen Einlassungen zur Umweltethik aufrecht beglückt. Wir ahnen in seinem differenzierten Zugang zu einem neuen Naturverständnis einen gangbaren Weg, uns trotz unserer eingeborenen Anthropozentrik von der alten, menschlich-narzisstischen Naturwahrnehmung wegzubewegen - vom wertenden Beobachter zum wertigen Teilnehmer natürlicher Prozesse. Auch darum ist das Buch ein unbedingt lesenswertes, bereicherndes. Es befördert, fundiert, ergänzt und präzisiert wesentlich jene Diskussionen um das Mensch-Natur-Verhältnis - und das diesbezügliche Selbstverständnis der Wissenschaften -, die schon so lange im Ungefähren schweben.
Rezension: Sacha Rufer
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