Autor | Margot Spohn / Roland Spohn |
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Verlag | Haupt Verlag |
Umfang | 302 Seiten |
ISBN | 978-3-258-07950-9 |
Preis | Fr. 35.90 (UVP) |
Nehmen wir mal: Die Eiche. Ein prächtiger Baum, bis zu einem Jahrtausend alt werdend, tief verwurzelt in menschlicher Überlieferung und Aberglauben, und Heimat von - je nach Zählung - 300 bis 700 Arten, die mit und von ihm leben. Davon über einhundert verschiedene Gallwespen, deren Eiablage in den Blättern ebenso viele verschiedene Gallen wuchern lässt, die dann, nachdem sie von ihren Bewohnern verlassen wurden, gern von anderen Insekten nachgemietet werden. Gleich daneben bohrt ein kurios aussehender Käfer namens Eichelbohrer ein Loch in - ganz recht - eine Eichel. Das Jahr schreitet voran, die Eichel fällt ab, und die Bohrung wird zur Eingangshalle einer geschäftigen Kolonie von Schmalbrustameisen. Ob diese dann frei kriegen, um die dahinraupende Prozession der Eichen-Prozessionsspinner zu besuchen, wissen wir jetzt nicht. Kuckucke jedenfalls gehen da gern hin: Ihnen ist sie ein Buffet.
Jetzt werden Sie, unsere kundigen Leserinnen und Leser, sich natürlich denken: Klar, dass hier von den fünfzig heimischen Bäumen, Sträuchern und Gehölzen, die uns das Buch vorstellt, ausgerechnet die Eiche als Beispiel herausgegriffen wird. Immerhin zählt sie, betreffend Artenreichtum und wohl auch betreffend Beliebtheit, zu den Spitzenreitern. Und wir geben es ja zu: Völlig wahllos fiel diese Entscheidung nicht. Doch wir können mit bestem Gewissen behaupten, damit den lebendigen Reichtum an verblüffenden Geschichten und Kenntnissen, die uns dieser Naturführer zu den Beziehungen der Pflanzen mit Vögeln, Käfern, Mäusen, Faltern und Pilzen zu bieten hat, gerade erst gestreift zu haben. Dass auch dieser Reichtum wiederum nur einen repräsentativen Ausschnitt der vielfältigen Feind- und Partnerschaften am Kleinbiotop Baum abbildet, verzeihen wir den AutorInnen schon aus Gründen der Überschaubarkeit gern - doch hauptsächlich, weil sie ihre Auswahl an sinnreichen Kriterien orientieren.
Ein erstes dieser Kriterien ist die Nachvollziehbarkeit der Erkenntnisse in der eigenen Beobachtung. Die Bäume und Sträucher sind im Wald, an Alleen oder auch im eigenen Garten leicht aufzufinden. Von hier weist uns der Naturführer zielsicher zum spezifischen Schauplatz und Zeitpunkt der erläuterten Phänomene. In der Auswahl dieser Phänomene wiederum ignorieren Margot und Roland Spohn selbstbewusst jede landläufige Wertung der beteiligten Organismen als "Nützlinge" und "Schädlinge". Sie beschreiben demgemäss den Lebenszyklus der Gespinstmotte oder die Biologie des Mehltaus als ebenbürtiges Faszinosum zu den architektonischen Bemühungen des Spechts oder den Spezialisierungen von Wildbienen. Das solcherart vermittelte Naturverständnis öffnet sich einer vorurteilsfreien Wertschätzung der schöpferischen und fruchtbaren Beziehungsgeflechte des Lebens.
Diesen Ansprüchen wird dann auch die reichhaltige Bebilderung des Buches gerecht. Roland Spohn hat hier nicht nur einen grossen Teil der Fotografien, sondern auch viele aussagekräftige Zeichnungen beigesteuert. In ihrem Zusammenspiel machen uns die Illustrationen nicht nur die verschiedenen Bäume, Tiere, Larven oder Pilze kenntlich, sondern vertiefen die geschilderten ökologischen und biologischen Einsichten punktgenau dort, wo dies die erzählenden Texte noch nicht erledigt haben.
Dieser Erzählstil des Naturführers ist einerseits eine Stärke: Er bindet die neugewonnenen Kenntnisse in fassliche Geschichten, die auch immer die Begeisterung und neugierige Forscherfreude der Verfasser übermitteln. Andererseits erschwert er die Orientierung, wenn vom Zentralpunkt des beschriebenen Gehölzes bald die Entwicklungsstadien eines Käfers, dann die Lebensansprüche einer Alge erörtert werden. Das angefügte, umfassende Register hilft hier zwar weiter, doch mit einem verstärkten Zugriff darauf muss man sich anfreunden. Das Buch mag sich deshalb nicht als ein Naturführer im engeren Sinn dieses Wortes aufdrängen. Als ein vielseitig bereichernder, durchwegs faszinierender Reiseleiter zu den allzu leicht übersehenen Geheimnissen in unserer nächsten Nachbarschaft aber in jedem Fall.
Rezension: Sacha Rufer
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