Autor | Andrea Wulf |
Verlag | C. Bertelsmann |
Umfang | 555 Seiten |
ISBN | 978-3-570-10206-0 |
Preis | Fr. 33.90 (UVP) |
Alexander von Humboldt: Universalgelehrter, Vordenker, Naturforscher. Oder Alexander von Humboldt: Aufklärer, Sklavereigegner, Kosmopolit. Er ist schwer in Gänze zu fassen, dieser bahnbrechende Denker, Forscher und Träumer des 18. Jahrhundert, als Mensch ebenso wie als Wissenschaftler. Den Beweis seiner Bedeutung in seiner Zeit erhalten wir indessen durch eine schlichte Zählung: Nach keinem anderen Menschen sind so viele Landstriche, Lebewesen, geografische Objekte, Institutionen und Auszeichnungen benannt. Das beteuert die Historikerin Andrea Wulf in ihrem Buch, und wenn die penible und ausgreifende Recherche, die dieses durchgängig prägt, hier auch nur ansatzweise zum Einsatz kam, so müssen wir es als eine simple Tatsache anerkennen.
Das Buch ist äusserlich erst einmal eine Biografie. Andrea Wulf erzählt uns darin Werden, Wirken und Wissen eines zeitlebens rastlosen Genies in seiner rastlos revolutionären Ära. Die amerikanische Unabhängigkeit und die Französische Revolution fielen ebenso in Humboldts Lebenszeit wie die darauffolgende Umgestaltung Europas durch Napoleon oder die Reise eines jungen, namentlich von ihm inspirierten Naturenthusiasten auf einem Schiff namens Beagle. Dies alles vibriert im Hintergrund, während die Autorin uns auf den Spuren seiner ersten Expedition durch Venezuela und später durch Sibirien geleitet, seine Freundschaften mit Goethe, Simón Bolívar oder Thomas Jefferson ausspioniert oder uns seine zahlreichen Publikationen erläutert. Sie tut dies gewissenhaft und mit jener Hingabe zum Detail, das die kühlen Fakten einer Lebensgeschichte in ein lebendiges Erlebnis verwandelt. Doch es umfasst dann erst die Hälfte des Unterfangens, dem sie sich verschrieben hat.
Um eine rechte Vorstellung vom Gehalt ihres Buches zu erhalten, müssen wir seinen Untertitel mitlesen. Alexander von Humboldt steht punktgenau an jenem Ort der jüngeren Weltgeschichte, als die Vorstellungen von "Natur" sich aus dem Korsett einer statischen Schöpfung herauspellten und zum Bild eines dynamischen Lebensgewebes wandelten; als die Naturphilosophie sich zur Naturwissenschaft umformte und sich die Umwelt plötzlich nicht nur viel faszinierender, sondern auch verletzlicher präsentierte. Dass Humboldt an diesem Ort nicht nur herumstand, sondern den Umschwung massgeblich und aktiv anstiess: Das ist die Behauptung von Andrea Wulf. Sie leistet bravouröse Arbeit, sie zu beweisen. Sie präsentiert uns ihren Protagonisten nicht nur als einen aus dem Nebel der Geschichte herauszuschneidenden Ahnen, sondern als ein blitzendes Bündel von Ideen, die sich dauerhaft in unser Oberstübchen eingenistet haben. Die Natur als Netzwerk von Wechselwirkung, Wandel und Beziehung: Humboldt. Der Mensch als täppischer Verunstalter und Schuldner dieser Natur: Humboldt. Und demgemäss verfolgt sie dann im hinteren Drittel ihres Buches seine wirkkräftigen Entwürfe in die Gegenwart; über Darwin, Thoreau und John Muir bis zu Wendell Berry oder Naomi Klein.
Andrea Wulf geht es also darum, uns Alexander von Humboldt und seine Weltsicht als unseren gegenwärtigen ökologischen Herausforderungen relevant ins Gedächtnis zu rufen - als Wegbereiter und Propheten, Fundament und Vision. Uns überrascht weniger, dass ihr das gelingt. Wir schätzen den trefflichen Teufelskerl ja ganz ähnlich ein. Uns begeistert, wie sie ihre Überfülle an Material, Kenntnis und Botschaft zu einer packenden, flüssigen Erzählung formt. Dabei neigt sie dann zwar manchmal zur Heldenverehrung, aber doch nie soweit, dass es ihr die Kritikfähigkeit anhaltend trübt. Ebenfalls könnten wir anmerken, dass sich Alexander von Humboldts assoziative, transdisziplinäre Denkungsart dann manchmal als zu assoziativ herausstellte – doch das mündete bereits in die Einordnung des Gegenstands des Buches statt des Buches selbst. Dieses Buch ist eine glänzende, ungemein belangreiche Lektüre, weit über den Anspruch einer Biografie hinaus. In seiner Darstellung eines offenen und unstillbar neugierigen Geistes lenkt es uns zielsicher zur Pflege der eigenen vorurteilslosen Neugier – und einer frischen, verzauberten Wertschätzung jener wilden Natur, die Humboldt als einer der ersten als schutzwürdig erkannte.
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