Buch «Rendezvous mit einem Oktopus»

Buch «Rendezvous mit einem Oktopus»

Das erstaunliche Seelenleben der Kraken

Man muss Kraken nicht mögen, um das ihnen gewidmete Buch von Sy Montgomery zu mögen. Man wird sie aber ganz bestimmt lieben, nachdem man dieses Buch ausgelesen hat.

 Autor Sy Montgomery
 Verlag mareverlag
 Umfang 336 Seiten
 ISBN 978-3-86648-265-4
 Preis Fr. 37.-- (UVP)

 

Sicher, Kraken sind nicht die beliebtesten Tiere. Es dürfte sogar nur wenige unbeliebtere geben. In Film und Literatur zeigt sich das Urteil über die achtarmigen, dreiherzigen, blaublütigen Zellhaufen, die da so gar nicht an Kätzchen oder Einhörner erinnern, jedenfalls recht einmütig. Ruchlose, schleimige, dämonische Monstren sind sie; Schiffszerschmetterer, Seemannsfresser, Jack-Sparrow-Attackierer. Dennoch: Das Vorhaben, sie unserem Wohlwollen, ja sogar unserer zärtlichen Sympathie anzuempfehlen, scheint gar kein so schwieriges zu sein. Zumindest nicht, wenn wir als Massstab und Beweis das Buch von Sy Montgomery heranziehen.

Die Schriftstellerin und Naturforscherin Sy Montgomery betatscht ihren ersten Oktopus im Bostoner New England Aquarium. Athena heisst die Dame, die da mit ihr Händchen - Tentakelchen - hält. Sie ist (auf Grund der natürlichen Kurzlebigkeit der Octopoden) nur die erste einer langen Reihe von Kraken dort und in nasser Wildbahn, die uns die Autorin sehr persönlich vorstellt: Immer auf der Spur der Frage, wie sich die unstrittige Intelligenz und frappante Sensibilität dieser Charakterkopffüsser von der unseren unterscheidet - und wie weit wir sie vielleicht doch verstehen oder nachfühlen können. Für sie wird das nicht nur zu einer abenteuerlichen Exkursion in intellektuelles Neuland, sondern vor allem auch zu einer emotionalen Achterbahnfahrt, während die mal anhänglichen, mal energischen, mal leutseligen Meeresungeheuer immer weitere Territorien ihres Herzens erobern. Für uns wird es (mindestens!) zu einem faszinierenden, begeisternden Trip hinaus an die Grenzen unseres anmassenden Selbstverständnisses.

Wir lernen: Kraken halten verschiedene Menschen problemlos auseinander und erkennen sie auch nach längerer Zeit wieder. Sie nutzen ihre Umwelt zielbewusst, sind zu komplexen Problemlösungen fähig. Sie spielen, fällen Entscheidungen, sind neugierig, schüchtern oder mutig. Doch bei all diesen Ähnlichkeiten unterscheiden sie sich doch grundlegend von uns. Sie schmecken mit ihren Armen. Ihr Hirn unterhält zahlreiche, weithin autarke "Aussenposten". Und sie kommunizieren mittels einer Farb- und Formensprache, die nicht nur jedes Chamäleon alt aussehen lässt, sondern uns bislang auch weithin Rätsel aufgibt. Dass da selbst Sy Montgomerys Einfühlungsvermögen und ihre gelehrte Durchdringung der Fragen um Wahrnehmung und Bewusstsein an ihre Grenzen gelangen, ist einsichtig. Doch darum, uns einen adäquaten Eindruck des krakischen Weltverständnisses zu verschaffen, geht es ihr auch nicht erstrangig. Oder ist es Zufall, dass sie uns neben ihren Oktopussen und all den anderen Meereslebewesen des New England Aquarium auch dessen menschliche Belegschaft feinsinnig vorstellt - und da dann mit besonderem Bedacht jene, die auch unter Menschen als etwas "anders" wahrgenommen werden? Neben ihrem umfänglich geglückten Unterfangen, uns die sträflich verfemten Kraken spannend und wertvoll zu machen, fördert sie so das Vermögen, sich auf das Fremdartige mit Toleranz, nein, mit Zuneigung und Wohlwollen einzulassen.

Dieser glanzvolle Gesamteindruck wird dann auch nicht von den zwei Irritationen behindert, die sich ins Leseerlebnis mischen. Da wäre einerseits das mysteriöse Bedürfnis Sy Montgomerys, ihre Erläuterungen in Redundanz vorzutragen. Traut sie es ihrer Leserschaft nicht zu, die Fakten zur Physiognomie und dem Verhalten des Oktopus gleich beim ersten Mal zu erfassen? Oder will sie damit nur sicherstellen, dass diese sich auch ganz bestimmt in unser Langzeitgedächtnis hämmern? Etwas weniger irritierend, aber erwähnenswert dann unser Eindruck, dass - trotz ihres Verständnisses der angeratenen Vorsicht bei der Interpretation tierischen Verhaltens - manchmal der anthropomorphisierende Gaul mit ihr durchgeht: Dass sie also die emotionalen Motive, die wir hinter menschlichem Verhalten erkennen, etwas zu leichtfertig auf ihre achtarmigen Kameradinnen zu übertragen neigt...

Das sind jedoch - wie gesagt - Kinkerlitzchen, die wir uns nur ob unserer Pflichten als Buchbesprecher anzumerken genötigt fühlen. Sie minderten keineswegs unser Vergnügen an Sy Montgomerys bestrickendem Buch. Das ist ein wundervoll leichtfüssiges Beispiel dafür, wie sich eine ambitionierte Tierdokumentation mit der verständlichen Erörterung naturwissenschaftlicher Fragestellungen und gehaltvollem human content verbinden lässt. Es reisst im Leser alle eventuellen Reste einer infantilen Unterteilung der Tierwelt in "gute" und "böse" Tiere effizient nieder. Es wird wahrscheinlich noch mehr tun: Nämlich die Freude und die Wertschätzung dafür, in welch exquisiter, staunenswerter Gesellschaft wir daumenopponierten Zweibeiner unseren Lebtag verbringen, zu neuen Höhen führen.

 

Rezension: Sacha Rufer


 

 

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