Autor | Jeff Vandermeer |
Verlag | Antje Kunstmann |
Umfang | 363 Seiten |
ISBN | 978-3-95614-197-3 |
Preis | Fr. 29.-- (UVP) |
Der Bär ist gross. Was heisst da gross; er ist riesig, drei Stockwerke hoch, und er fliegt. Er ist ein Dämon, ein Gott, Herrscher über die Stadt und die Menschen und all das andere Biotech darin. Aber nein, er heisst nicht Borne. Er heisst nach seiner herrschaftlichen Tätigkeit: Mord. Borne heisst das kleine Bündel Leben, das die gewiefte Sammlerin Rachel eines Tages aus seinem Pelz pflückt. Ein seltsames Ding, erinnernd an eine Seeanemone, einen Tintenfisch und eine kopfüberstehende Vase. Rachel verschleppt es – ihn – nach Hause in die Ruinen, in denen sie mit dem verzagten Wissenschaftler, ihrem Liebhaber Wick lebt. Sie zieht ihn auf, hätschelt und beschützt ihn. Und Borne wächst schnell, bald schon spricht er und offenbart sein wahres Wesen als ein geschickter Gestaltwandler. Borne ist gelehrig, zärtlich, ein mörderisches Tentakelmonster, fremd und anhänglich. Er wird in Kürze die Leben von Rachel, Wick und der ganzen Stadt einschneidend verändern. Zum Besseren? Zum Schlechteren? Wie soll man das so genau wissen?
Die Welten, in die uns Jeff Vandermeer entführt, sind einzigartig. So war es damals in seiner Southern Reach-Trilogie, und so ist es auch die Welt, auf die wir hier in seinem neuen, abgeschlossenen Roman treffen. Sie ist beklemmend, mitleidslos, verstörend - und manchmal fast schon romantisch, auf ihre eigene, hinterhältige Weise. Wobei der Autor dann erfolgreich jeder Versuchung trotzt, sie uns zu erklären. Es ist erkennbar eine Welt nahe unserer, doch was ist geschehen? Was ist überhaupt los? So frustrierend diese Ungewissheit im ersten Moment sein mag, ist sie in Wahrheit genau das, was sich uns ins Gedächtnis meisselt - so dass uns Vandermeers Vision, noch lange Zeit nach der Lektüre, angesichts einer Newsmeldung oder eines gegen die Deckenlampe sirrenden Insekts plötzlich wieder in ihre zu Rätseln gediegenen Landschaften zurückwirft.
Wir verharren so ausführlich bei Jeff Vandermeers dystopischem Weltentwurf, weil er das wirksamste Element seines Buches ist. Das bedeutet nicht, dass die darin angesiedelte Story irgendeinen Grund zur Klage gäbe: Sie ist bewegend, trefflich erzählt und so packend, dass uns das Hinschwinden der Seiten mit wachsender Betrübnis erfüllte. Doch selbst ihre Protagonistin bewegt sich durch sie mehr als Zeugin denn als Gestalterin. Während wir mit ihr durch die von Tarnmantel-Füchsen durchstreifte, von Mutantenkindern mit Wespen in den Augenhöhlen heimgesuchte, verseuchte Stadt schleichen und mit Kampfkäfern nach Bedrohungen schmeissen, erfahren wir diese auf Augenhöhe - das Epos spielt sich indessen am Horizont ab. Das ermöglicht uns die teilnehmende Identifikation mit der sympathischen Heldin und die fassungslose Tuchfühlung mit einer von Biotech überrannten Welt. Biotech – es begegnet uns hier als tatsächliche Technik; als auf einen speziellen Nutzen optimiertes Leben. Nur dass dieses zur Verwirklichung seines Nutzens eben nicht unbedingt der Menschen bedarf...
Ist das Buch deshalb als eine Warnung vor den Versuchungen und Gefahren der Biotechnologie zu lesen? Gewiss. Doch ebensowenig, wie sich Jeff Vandermeer um Genrekonventionen schert, mag er sich hier mit landläufigen Klischees begnügen. Keine Warnung vor menschlicher Hybris also, keine scherenschnitthafte Bedrohung, überwunden vom tugendeifrigen Haudegen: Nur strudelndes, geheimnisvolles Leben. Wenn sich der Autor überhaupt einmal der Sitten und Unsitten seines Genres hingibt, dann im Höhepunkt jenes Epos, das sich am Horizont abspielt. Da erleben wir einen der in der Science-Fiction allzu beliebten, mystischen Deus-Ex-Machina-Momente. Doch da seine ganze Erzählung sich um die Ausgeliefertheit und Einbindung in unbeherrschte, gottähnliche Lebensmächte rankt, ist ihm das zu verzeihen - wo nicht sogar zwangsläufig.
Jeff Vandermeers imposanter Roman beschäftigt sich mit ebenjenen Themen, mit denen sich alle gute Literatur beschäftigt: Was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Er diskutiert das, was die meiste gute Science-Fiction diskutiert: Was es erfordert, in der Auseinandersetzung mit dem Fremden, Nichtmenschlichen ein Mensch zu bleiben. Die mögliche Zukunft, die er uns zeichnet, kommt erst mal als Apokalypse daher, ja. Doch diese ist Jeff Vandermeer weniger Grund zur Klage als zur Frage: In welcher Position stehen wir eigentlich – persönlich, als Spezies und Menschheit – zum furchterregenden, wunderbaren, beharrlichen Reigen des Lebens? Von unserer Aufrichtigkeit bei ihrer Erörterung dürfe abhängen, wie weit wir zur Annäherung an seine Vision verdammt sind.
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