Autor | Amitav Ghosh |
Verlag | Blessing |
Umfang | 255 Seiten |
ISBN | 978-3-89667-584-2 |
Preis | Fr. 30.90 (UVP) |
Die Frage, die den bekannten indisch-amerikanischen Romancier Amitav Ghosh umtreibt, ist eine, die sich auch uns schon aufzwang: Wenn doch der Klimawandel mit all seinen Verunsicherungen sich im letzten Jahrzehnt als eine existentielle Bedrohung ins öffentliche Bewusstsein drängte, weshalb hinterlässt er kaum Spuren im zeitgenössischen literarischen Schaffen? Mit literarisch meint er, als einer ihrer Vertreter, die sogenannte ernste Literatur. Sein Eindruck deckt sich mit unserem: Dass nämlich, wenn sich schon eine Autorin dazu herablässt, hier den Finger in die offene Wunde zu liegen, sie oder er sich mit höchster Wahrscheinlichkeit in einem der Gefilde der "Genreliteratur" austobt. Es ist dann also ein Thriller, ein Jugendroman, Science-Fiction, ein Krimi... Amitav Ghosh bemüht sich mit Sachverstand und Verve, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen. Dazu holt er etwas aus.
Amitav Ghoshs These ist, grob zusammengestrichen, dass sich der moderne Roman der Erzählebene des Kollektiven (all dessen also, was über die individuellen Entscheidungshorizonte hinausgeht) verschlossen hat. Dies zu belegen streift er durch die Literatur- und Zeitgeschichte. Er zeigt, wie sich (wohl auch in Reaktion auf einen überspannten Wahrheitsanspruch der Wissenschaften) die Kunst und Literatur im letzten Jahrhundert in ihre "Realitäten" der Innerlichkeit und der individuellen Erfahrung zurückzogen. Er legt weiterhin dar, wie die moderne Literatur dabei eine Trennung von Natur und Kultur favorisierte, die ihr dann den ganzen Zoo an Lebenswirklichkeiten ausserhalb der eigenen abschnitt. Einfacher könnte man sagen: Unserer modernen Kultur ist die Anthropozentrik - der Bezug ausschliesslich auf uns Menschen - grundlegend eingeschrieben. Doch einfacher möchte es Amitav Ghosh erst einmal nicht haben. Er wuselt deshalb über die erste Hälfte seines Buches durch genau jene selbstreflexiven Turmzimmer der Literaturen, deren Individualbezug er als einen Grund ausmacht und kritisiert, weshalb ihnen die Bearbeitung einer kollektiven, „übermenschlichen“ Krise schwerfällt. Das ist schon darum ärgerlich, da es nach einem Bildungshorizont ähnlich dem seinen verlangt, seine Argumente kritisch zu würdigen – und er das dann erschwert, indem er dem weiteren Anliegen frönt, speziell die asiatischen Beiträge zur Literatur gebührend herauszustreichen.
Nach dieser ersten Hälfte des Buches wäre uns deshalb nicht im Traum eingefallen, es hier zu empfehlen. Doch da es Amitav Ghosh deutlich zuwider ist, die eingeklagten Grenzzäune zwischen "ernster" und Genreliteratur, zwischen Natur und Kultur noch einmal hochzureissen, gelingt ihm die wundersame Rettung. In der zweiten Hälfte seines Buches übersetzt Amitav Ghosh seine Erkenntnisse zu engagierter Klarheit. Er formuliert eine geistreiche Kritik des zweifelhaften Gedankenguts der kulturellen, wirtschaftlichen und technischen Moderne, angereichert mit wichtigen Schlüssen zur spezifisch asiatischen Rolle darin. In einem überraschenden Angriff gesellt er dann noch der in klimaschützerischen Kreisen so beliebten Kapitalismuskritik den schon etwas ausser Sicht entschwundenen Begriff des Imperialismus hinzu. Da kann er stimmig aufzeigen, weshalb ausgerechnet jene politischen Kräfte, die der Realität des Klimawandels mithin am alarmiertesten gegenüberstehen - die mit Sicherheitsfragen beschäftigten Militärs und Geheimdienste - sich dann paradoxerweise so entschlossen zeigen, den diesbezüglichen Status Quo zu wahren.
Amitav Ghoshs Analyse der kulturellen und gesellschaftlichen Klimawandel-Verdrängung ist ein begründeter Ruf nach einer neuen, sich der Lebendigkeit und Realität der Ökosphäre wieder öffnenden Literatur. Das hinterlegt er mit einer Vielzahl punktueller Einsichten dazu, wo hierfür anzusetzen wäre. Es ist darüber hinaus eine scharfsinnige Erwägung jener psychologischen und kulturellen Kräfte, die es nicht nur Literatinnen, sondern uns allen so schwer machen, den Klimawandel als eine reale, uns persönlich angehende Krise unserer Lebensart zu begreifen. Es zielt auf die Freisetzung transformativer Kräfte mittels der Erkundung neuer (oder auch alter) Erzählgewohnheiten – und damit auf nichts weniger als einer Revision unserer Rolle in der grossen Erzählung vom Planeten Erde.
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