Autor | Sebastian Moos / Sarah Radford et.al. |
Verlag | Haupt |
Umfang | 145 Seiten |
ISBN | 978-3-258-08112-0 |
Preis | Fr. 36.-- (UVP) |
Während wir von Ländern des Globalen Südens munter den Schutz von Wildnisgebieten wie Savannen oder Regenwäldern fordern, hat die Wildnis vor unserer Haustür einen schweren Stand. Diesbezüglich mag uns vielleicht beruhigen, dass einschlägige Studien zum Schluss gelangten, eine kleinräumige, vom Menschen geschaffene Kulturlandschaft biete einer breiteren Artenvielfalt Raum als etwa eine vergandende Alpwiese. Dieses soweit plausible Argument blendet dann aber den Zeithorizont weitgehend aus. Denn mag die soeben erst aufgegebene Alpweide jetzt auch noch von uniformen Sträuchern überwuchert sein, so sieht das schon ganz anders aus, wenn erst mal die Stürme, die Erosionskräfte und das Wild drübergegangen sind. Und die hier entstehenden Nischen könnten dann auch Arten Schutz bieten, die im Kulturraum keine Heimat finden...
Dem Wildnisschutz in der Schweiz wieder mehr Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit zu verschaffen, engagiert sich die gemeinnützige Alpenschutzorganisation Mountain Wilderness Schweiz. Um dafür schon mal einen Trittstein zu legen und zum Potenzial und der Akzeptanz von Wildnis in der Schweiz verlässliche Daten zu ermitteln, führten sie unterstützt von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL die Studie durch, die sich im vorliegenden Buch aufschlussreich präsentiert findet. Da heisst es dann erst einmal, überhaupt eine sinngerechte Definition von "Wildnis" zu finden. In einer prägnanten Übersicht werden dafür die verschiedenen gesellschaftlichen und institutionellen Wildniskonzeptionen vorgestellt und verglichen. Daraus ergeben sich vier objektivierbare Kriterien - Natürlichkeit, Menschliche Einflüsse, Abgeschiedenheit und Rauheit der Topographie - die dann der Studie zugrundeliegen. Die setzt sich zusammen aus zwei Teilen. Im Ersten erfragt sie die gesellschaftlichen Einstellungen und Wahrnehmungen von Wildnis und forscht nach der Akzeptanz gegenüber der Ausscheidung von Flächen mit freier Naturentwicklung. Im zweiten Teil ermittelt sie anhand einer GIS-Modellierung die Flächen mit hohem Wildnispotenzial in der Schweiz.
Im ersten Teil der Studie wurden ausgesuchte Einwohner des Maderanertals zur Wahrnehmung und Akzeptanz von freier Naturentwicklung interviewt, ergänzt dann um die Befragung von 24 Fachpersonen der kantonalen Verwaltungen von fünf Alpenkantonen. Der zweite Teil wiederum ermittelte über geografische Datensätze zu den vier Wildniskriterien - im Einzelnen wiederum gewichtet von 22 Wildnisfachpersonen - die Wildnisqualität der Schweiz und führte die Erkenntnisse in einer anschaulichen Karte zusammen. Aus dem Fazit der beiden Studienteile ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Da steht ein erstaunlich hoher Anteil unserer Landesfläche mit hoher Wildnisqualität - nämlich 17% - einem ausgeprägten NIMBY-Effekt gegenüber. NIMBY, das bedeutet Not in my backyard und hört sich ungefähr so an: Soll Wildnis vor menschlichem Zugriff geschützt werden? Aber unbedingt! Der Wald am Hang da drüben beispielsweise? Nääää... In der Diskussion dieser Ausgangslage verdichten die Autorinnen die gewonnenen Erkenntnisse zu sechs Kernbotschaften und Vorschlägen, um einen intensivierten Wildnis- bzw. Prozessschutz (als wichtige Ergänzung zum konventionellen Landschafts- und Artenschutz) auf den Weg zu bringen. Eine der konstruktiven Ideen, die sich da finden, ist dann etwa die, der geläufigen Vorstellung einer hierarchischen Überlegenheit des Menschen über seine Mitwelt dadurch Rechnung zu tragen, dass die Ausscheidung von Wildnisschutzgebieten weniger als Einschränkung denn als eine kulturelle Leistung kommuniziert wird.
Wir wenden hier viel Platz auf, um die Studie noch vor dem Buch vorzustellen, da uns diese bedeutsam scheint. Sie mag, in ihrem ersten Teil, noch weitgehend den Charakter einer Stichprobe haben. Doch sie überschätzt sich da nicht und bietet einen stabilen Ausgangspunkt zur weiteren Forschung ebenso, wie sie bereits wertvolle Schlüsse zulässt und wesentliche Grundlagen bereitstellt. Das Buch selbst vermittelt all dies redlich und eingängig: Redlich, indem es die Studienergebnisse und die spezifische Agenda der ausführenden Organisationen stets unterscheidbar hält, und eingängig in seiner Übersichtlichkeit, der nachvollziehbaren Sprache und der angemessenen Anreicherung mit aussagekräftigen Illustrationen, Fotografien und Diagrammen. Da finden sich dann allenfalls noch kleinere Redundanzen in den Beiträgen der verschiedenen Autorinnenteams - wenn etwa zum vermehrten Mal darauf hingewiesen wird, dass "Wildnis" kein objektives Konzept sei. Das sind dann aber Kinkerlitzchen. Wir empfehlen das Buch ganz uneingeschränkt allen, denen an einer lebendigen Zukunft unseres Alpenraums und einem zielgerechten Naturschutz gelegen ist.
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