Autor | Samira El Ouassil / Friedemann Karig |
Verlag | Ullstein |
Umfang | 521 Seiten |
ISBN | 978-3-550-20167-7 |
Preis | Fr. 28.50 (UVP) |
Menschen erzählen sich Geschichten. So weit, so unspektakulär. Doch gerade weil es so unspektakulär ist, geht schnell vergessen, wie sehr die Geschichten, die wir uns erzählen, unsere Wahrnehmung der Welt formen. Mehr noch: Wie bereits die Struktur unserer Narrationen diese Welt gestalten – im übertragenen Sinn ebenso wie im tatsächlichen –, während das Universum eben gerade keine Geschichten erzählt. Diese grundlegende Problematik unserer Erschaffung von Wirklichkeit beschäftigt die Wissenschaft natürlich seit langem und ist auch bereits in die öffentliche Debatte vorgedrungen. Insofern berichtet uns dieses Buch nichts Neues. Was Samil El Ouassil und Friedemann Karig darüber hinaus jedoch trefflich meistern, ist es, die diesbezüglichen Erkenntnisse aus dem akademischen Diskurs ins alltägliche Verständnis hinüber zu geleiten und uns prägende Narrative und ihre Mechanismen kenntlich zu machen.
In den Grundlagen genauso wie im Erzählbogen ihres Buches orientieren sich die Kommunikationswissenschaftlerin El Ouassil und der Medienwissenschaftler Karig an Joseph Campbells Monomythos; jenem Schema der Heldenreise also, dem etwa George Lucas in seiner Star Wars-Saga penibel nachfolgte. Diese Bezugnahme auf Epigonen der Popkultur bleibt dann im Übrigen Programm. An Hand populärer Geschichten, die mit guter Wahrscheinlichkeit einer breiten Leserinnenschaft vertraut sein dürften, führen sie uns erst einmal an die psychologischen und kognitiven Grundlagen unserer Erzählwelten heran. Daraus brechen sie dann auf, sie uns in ihrer gestaltenden Macht fassbar zu machen und bedeutsame Narrative in unserer Gegenwart zu verorten. Die Wirkmacht der Mythen des Nationalismus und Rassismus, der Misogynie oder der Verschwörungserzählung durchleuchten sie dabei genauso wie jene der Ökonomie oder der Technologie.
So aktuell relevant das alles bereits ist, warteten wir in unserer professionellen Deformation doch hauptsächlich auf ihre Aufarbeitung der Erzählungen vom Klimawandel. Tatsächlich markiert diese dann – wo schon nicht quantitativ, so doch inhaltlich – einen zentralen Angelpunkt des Buches. Die allzu offensichtliche Unfähigkeit der Menschheit, eine stimulierende Bewältigungsgeschichte zu den Herausforderungen der Klimakrise zu finden, erklären sie am diesbezüglichen Scheitern unserer geläufigen Erzählmuster. Dementsprechend entwerfen sie neue – und zeigen dabei nicht nur, dass diese möglich sind, sondern versorgen uns auch gleich mit inspirierenden Beispielen. Dass sie dabei der etwas zu schnell vergessenen Autorin Ursula K. LeGuin die gebührenden Ehren zukommen lassen, war uns nur eine persönliche Freude. Dass sich diese skizzierte Umformung der Erzählkultur dann nicht nur im Zusammenhang mit den ökologischen, sondern auch aller weiter oben aufgezählten Baustellen als konstruktiv erweisen dürfte, addiert sich noch objektiver zum Wert ihres Buches.
Samil El Ouassils und Friedemann Karigs Sachbuch ist derweil kein makelloses. Gelegentlich verkürzen und ideologisieren sie ihre Argumente zu offensiv, und ihre strikte Orientierung am Monomythos dürfte Einsprache aus der Fachdisziplin erregen. Doch während wir eine nachforschende Lesart des Buches gern befürworten, kann auch eine solche es nicht seiner Stärken berauben. So unterhaltsam und ungemein lehrreich es sich liest, bemüht es sich nirgends, das potentielle Unbehagen abzumildern, wo immer man sich in der eigenen, unreflektierten Verstrickung in eine liebgewonnene Geschichte ertappt. Doch genau solcher konstruktiver Provokationen unserer vermeintlichen Gewissheiten bedürfen wir, wollen wir der grossen Rede von der Transformation auch zweckdienliche Handlung folgen lassen. Diese Auseinandersetzung ermöglicht das Buch so zielstrebig wie breitenwirksam – und mit einer schwer zu widerstehenden Lust daran.
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