Tschernobyl: Dark Tourism und Freilandlabor

Der nie eröffnete Freizeitpark mit Riesenrad wird zum Symbolbild der Katastrophe in Tschernobyl. Der nie eröffnete Freizeitpark mit Riesenrad wird zum Symbolbild der Katastrophe in Tschernobyl.

34 Jahre nach dem Gau in Tschernobyl steigen die Zahlen der Tiere in der Sperrzone- und die der Touristen.

 
Ende April 1986 entdecken schwedische Kontrolleure erhöhte Werte radioaktiver Strahlung in der Nähe eines Kernkraftwerks in Stockholm. Sie sind alarmiert, doch kurz drauf melden auch andere Kraftwerke erhöhte Werte. Schnell wird klar; die Strahlung stammt nicht vom schwedischen Kraftwerk, sondern sie befindet sich in der Luft. Als die Wissenschaftler den Ursprungsort der Radioaktivität berechnen, finden sie heraus, dass es in der Ukraine (damals Sowjetunion) wohl einen Vorfall im Kernkraftwerk Tschernobyl gegeben hat. Die sowjetische Führung leugnet den Unfall zunächst. Die Unfallstelle ist abgeschirmt, das Leben der Menschen geht normal weiter. 

Der Grösste Anzunehmende Unfall  

Der GAU in Tschernobyl wurde durch einen Test ausgelöst. Im gerade fertiggestellten Reaktor sollte getestet werden, ob bei einem Stromausfall die Notstromaggregate weiterhin die Stromversorgung gewährleisten können. Denn auch abgeschaltete Reaktoren benötigen Strom, damit die Kühlung der Brennelemente und die Messinstrumente weiterhin funktionieren. Doch die Sicherheitsübung entwickelt sich infolge technischer Defekte in der Anlage und deren falscher Bedienung zu einer Katastrophe. In der Nacht zum Samstag um 1:23 Uhr am 26.4.1986 verlieren die Arbeiter die Kontrolle über die nukleare Kettenreaktion. Der Reaktordruckbehälter explodiert und beschädigt das Gebäude. Der mit Graphit gefüllte Reaktor beginnt zu brennen, die Verbrennungsgase befördern das radioaktive Material weit hinauf in die Atmosphäre. Die radioaktive Wolke wird mit dem Wind in Richtung Skandinavien sowie Mittel- und Westeuropa geweht. 

Massnahmen nach dem GAU 

Der Brand lässt sich nur schwer löschen. Hubschrauber werfen tonnenweise Sand, Blei und Bor auf den havarierten Reaktor. Überall um die Unfallstelle liegt radioaktiver Schutt. Die Arbeiter, die die ersten Massnahmen ergreifen, werden fast alle an den Strahlenschäden sterben. Erst nach 10 Tagen ist die Situation soweit unter Kontrolle, dass keine radioaktiven Partikel mehr in die Umwelt gelangen. Erst jetzt werden die Einwohner in der nahe gelegen Stadt Prypjat evakuiert. Die Bevölkerung wird nur schlecht aufgeklärt. Auch im 150km entfernten Kiev geht man weiterhin zum Markt und Kinder spielen im Freien Fussball. Insgesamt 300.000 Menschen müssen in einem 30 Kilometer grossen Umkreis um das Kernkraftwerk Tschernobyl ihre Heimat verlassen. 70 Dörfer und Städte werden zu verlassenen Geisterstädten.  
Am 6. Mai wird die Freisetzung von radioaktivem Material zum grössten Teil gestoppt, doch die Sperrzone bleibt auf unabsehbare Zeit verseucht bleiben. Die glühenden Überreste der Brennelemente sind zwar abgedeckt, strahlen aber weiter. Hundertausende Menschen und Soldaten beginnen mit den Aufräumarbeiten und der Dekontamination der Region. Viele dieser sogenannten Liquidatoren werden sterben, teilweise kurz nach ihrem Einsatz, andere Jahre später, aber immer qualvoll. Maschinen können vorerst noch nicht eingesetzt werden: Die Strahlung ist zu hoch, sie versagen ihren Dienst. 

 


Nach dem Unglück werden die Reaktoren 5 und 6 zwar nicht weiter gebaut, die Reaktoren 1-3 nehmen ihren normalen Betrieb jedoch schon im September des gleichen Jahres wieder auf und bleiben bis 2000 am Netz. Über dem havarierten Reaktor wird eine Schutzhülle aus Stahlbeton gebaut. Diese wird 2019 von einem neuen Sarkophag ersetzt. Der Bau verzögert sich, da die Strahlung immer noch höher ist als gedacht. Unter der Hülle soll der Reaktor nun zurückgebaut werden. Doch der Rückbau ist ein schwieriges Unterfangen, da niemand weiss, um wie viele Tonnen radioaktiven Materials es sich handelt und wo genau sie liegen. Die 36.000 Tonnen schwere Konstruktion soll für die nächsten 100 Jahre dafür sorgen, dass kein weiterer radioaktiver Staub in die Umwelt gelangt. Einen vollständigen Strahlenschutz bietet der Sarkophag nicht. 

Die Auswirkungen der Katastrophe  

Wie viele Opfer die Katastrophe das Leben kostete, darüber gibt es viele verschiedenen Studien und Zahlen, doch sicher kann das kein Wissenschaftler sagen. Ob ein Krebstoter in Belarus nun an den Folgen des GAUs oder durch andere Ursachen an Krebs erkrankte, lässt sich nicht klar eingrenzen. Die Liquidatoren jedoch sind deutlich häufiger an Krebs erkrankt als der Durchschnitt der Bevölkerung. Die Vereinigung der „Internationalen Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges“ sprechen 2016 von tausenden Menschen, vor allem in Belarus und der Ukraine, die an verschiedenen Krebsarten erkrankt sind. Der wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen, der die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung untersuchte, zählt indessen nur 62 Tote, die in den ersten 20 Jahren nach dem Unglück an dessen Folgen starben…
Bis heute wird in der Wissenschaft gestritten, wie gefährlich Radioaktivität tatsächlich ist und wie schwerwiegend sich auch geringe Dosen auf Menschen und Tiere auswirken. Bis heute sind in den Wäldern von Bayern, in Teilen Österreichs und Tschechiens die Wildschweine, Beeren und Pilze noch so stark verstrahlt, dass ihr Verzehr das Krebsrisiko relevant steigern würde. Auf rund 100.000 Hektar um das Kernkraftwerk Tschernobyl verteilt verrotten bis heute große Mengen an hoch- und mittelgradig radioaktivem Schutt in behelfsmäßig gesicherten Lagerstätten. Die Brennstäbe der Reaktoren 1-3 kühlen in Abklingbecken in der Nähe des Sarkophags ab. 

Rückeroberung der Natur 

34 Jahre nach dem Unfall ist von den evakuierten Dörfern und Städten nur noch die Hülle zurückgeblieben. Nachdem der Mensch aus der Sperrzone verschwand, eroberte die Natur die Gegend zurück. Biologen beobachten die Rückkehr von Elchen, Wisenten und Braunbären, die es vor dem Reaktorunfall in der Region nicht mehr gab. Das Monitoring zeigt: Eulen nisten in den Dachgeschossen und Dachse ziehen in die Keller der verlassenen Häuser ein. Im Herbst kommen viele Huftiere ins Sperrgebiet, um sich an den zahlreichen Apfel- und Pflaumenbäumen zu erfreuen. Die vom Menschen verlassene Gegend wird zum Freilandlabor. Studien sollen abschliessend klären, wie Radioaktivität sich langfristig auf die Natur auswirkt. Obwohl teilweise noch extrem hohe Strahlung zu messen ist, scheint es den Tieren gut zu gehen. Die Biologen finden mittlerweile keine missgebildeten Tiere oder Kadaver mehr. Die Radioaktivität ist zwar immer gefährlich für Menschen und Tiere, Tiere leben aber nicht lange genug, dass die Strahlung sich in ihrem Körper anreichern kann und an die Nachkommen weitergegeben wird. 3 Jahrzehnte nach dem GAU ist ein Teil der Strahlung in tiefere Bodenschichten gewandert, doch vor allem die Wälder sind noch schwer belastet. Dort haben Pilze und Moose das hochradioaktive Caesium-137 aufgenommen.  

Urlaub im Sperrgebiet 

Bis heute ist die Region um Tschernobyl radioaktiv verstrahlt, aber nicht menschenleer. 187 Menschen sind in ihre alten Häuser zurückgekehrt, und jährlich besuchen 70.000 internationale Touristen den Ort. Vor der Katastrophe lebten in Prypjat 49.000 Menschen. Innerhalb von drei Stunden wurden alle Bewohner evakuiert. Heute ist der Ort mehrfach dekontaminiert worden, wohnen darf jedoch weiterhin niemand so nahe an der Unfallstelle. Was hingegen von der Regierung erlaubt und sogar ausgebaut werden soll, ist der Tourismus. Im Sperrgebiet gelten strenge Regeln für die Besucher: Die Gruppen müssen zusammenbleiben, man darf sich nicht hinsetzen, nichts anfassen oder aufheben oder auf dem Boden abstellen. Auch ein Aufenthalt bei den sogenannten Hotspots ist verboten. In diesen kleinen Bereichen ist die Radioaktivität teilweise noch 150-fach über dem zulässigen Grenzwert. Anstatt Restaurants, Hotels oder Souvenirs werden verlassene Krankenhäuser, Schulen und Wohnhäuser erkundet. Das Highlight jeder Führung ist dann natürlich, den Sarkophag zu bestaunen. Bis zu 300 Meter darf man an den Reaktor 4 heran. 
Die Verantwortlichen sagen, die Strahlenmenge sei ungefährlich. Wer einen Tag in Tschernobyl verbringt konsumiert ungefähr die Strahlenmenge, der man auch bei einem 2h Flug im Flugzeug ausgesetzt ist. Es ist wohl nichts für schwache Nerven, Urlaub in der Todeszone zu machen, aber eine erhöhte Strahlung wurde bisher noch bei keinem Touristen festgestellt. Jeder muss sich beim Verlassen des Sperrgebietes dem obligatorischen Strahlentest unterziehen. 
 
 
 

 


 

Quellen und weitere Informationen:  
Tschernobyl Kongress: Ärztetreffen
IPPNW: Waldbrände verteilen Radioaktivität in Europa
DLF: Manipulierte Zahlen bei Todesopfern
UNEP: Strahlung- Effekte und Quellen

  


 

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