Sonnendurchflutetes Grasland, ein wenig Gehölz hier und da: Breit ausladende Baumkronen in unregelmässiger Verteilung. Ein Bach? Ja, ein leise dahinmurmelnder Bach, dort drüben. An seinem erdigen Ufer senken Antilopen die Hälse… Vögel gleiten am von wenigen flauschigen Wölkchen bestandenen Himmel, Wind rauscht in den Blättern. Grün!
So ungefähr könnte es aussehen, das idealtypische Bild von Natur. Anderen taucht vielleicht eine ganz andere Szenerie vor dem inneren Auge auf, wenn der Begriff im Gespräch einmal fällt: Ein wuchernder Dschungel, eine verschneite Bergkette, eine Urlaubserinnerung an die urtümlichen Küsten Alaskas oder das Fernsehbild des blutverschmierten Mauls einer Löwin.
Egal. Worauf wir hinauswollen: Naturbilder! Keine Kunst jetzt, keine Fotografien oder Aquarelle, sondern die Bilder und Vorstellungen, die wir in unserem Oberstübchen mit dem unschuldigen kleinen Wort verbinden. Und die dann – nur leise und verstohlen zwar, aber doch erderschütternd wirkmächtig – unseren Umgang mit unserer lebendigen Mitwelt prägen. In unserer neuen Artikelserie wollen wir ihnen nachforschen, ihre unterschiedlichen Ausformungen begutachten, ihre Gestaltungsmacht bestaunen und vielleicht sogar zu einem Naturbild vorstossen, wie es unserer Bemühung um eine nachhaltige Zukunft dienlich wäre. Aber erst einmal: Warum ist das wichtig? Und noch zuvor: Was meinen wir überhaupt mit Natur?
Alles oder Nichts
Natur: Das ist ein zu kleines Wort für ein zu grosses Ding. Entsprechend fällt es schwer, sie verbindlich zu definieren, und kein gelehrter, philosophischer oder ökologischer Ansatz dazu hat je alle befriedigt. Das Wort selbst leitet sich vom lateinischen nasci ab, das ungefähr „entstehen“, „entstammen“ bedeutet. Das hilft uns aber selbst dann nicht präzise weiter, wenn wir mit dem Begriff einzig die belebte (biotische) Natur erfassen wollen. Legen wir überdies eines Nachts unter freiem Himmel den Kopf in den Nacken, eröffnet sich uns zusätzlich noch eine famose Menge an abiotischer, unbelebter Natur – je nachdem zumindest, wie vielen Filmen von ausserirdischen Invasionen wir Glauben schenken wollen.
Das Wort beschreibt nun schon Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt, biologische Prozesse, physikalische und geologische Phänomene, Galaxienhaufen… und den Menschen? Irgendwie Alles halt. Und damit nichts mehr, das wir daraus gesondert herauspflücken könnten.
Grenzziehungen
Eine Hilfestellung bietet sich darin, die Natur gegen etwas anderes abzugrenzen. Leicht aus der Mode gekommen ist der Ansatz, sie mit dem Göttlichen oder Geistigen zu kontrastieren; als eine Idee vom Dies- und Jenseitigen. Die Natur wäre dann das, was uns unmittelbar zugänglich und greifbar ist, im Gegensatz zu dem, was sich diesem direkten Zugriff entzieht. Das verkompliziert sich bereits, wenn wir auf die unzähligen Kulturen und Weltanschauungen in Vergangenheit und Gegenwart blicken, die in der Natur selbst Göttliches erkennen. Und noch einmal ganz anders dann, wenn wir das menschlich Geistige als evolutionär „natürlich“ Entstandenes begreifen. Gleichwohl werden wir auf diesen Dualismus in den kommenden Artikeln gelegentlich wieder treffen.
Verbreiteter ist es momentan, der Natur den Gegenpol Kultur anzuschmiegen. Während wir bei der Kultur, in unserem Alltag, zuerst an Kunst oder Brauchtum denken mögen, umfasst sie darüber hinaus alles vom Menschen Gestaltete: Die Kulturlandschaft, die Sprache, Verhaltensnormen oder Werkzeuge, Religionen, Esskultur, Symbole, Institutionen, Handelsgüter, Naturbilder… Die Grenze verläuft hier also zwischen dem vom Menschen aktiv Geschaffenen und dem, was sich unabhängig von unserer Schaffenskraft, „aus sich selbst heraus“ ins Dasein brachte und bringt. Dass diese Grenzziehung keine Absolute, sondern höchstens eine Graduelle sein kann, wird jede Gärtnerin bestätigen, die die Gurken in ihrem Garten zwar angeordnet, gepflanzt und gehegt, aber beim besten Willen nicht „gewachsen“ hat. Darüber hinaus hat der Dualismus Natur/Kultur noch so einige andere Probleme, die uns in dieser Artikelserie auch weiterhin beschäftigen werden. Vorerst halten wir einfach mal fest: „Natur“ ist nur unbefriedigend zu definieren. Der Mangel an Definition hat uns Menschen derweil noch nie davon abgehalten, uns zu irgendwas eine Vorstellung und eine Meinung zu bilden.
Das Detektiv und der Raubtier, oder: Warum unsere Ideen von Natur wichtig sind
Unsere Vorstellungen von Natur – und die daraus abgeleiteten Werturteile – bestimmen wesentlich, wie wir uns intuitiv und auch bewusst in ihr verhalten. Darüber hinaus wirken sie wieder darauf zurück, wie wir „Natur“ überhaupt wahrnehmen und deuten. Dies nicht nur in Bezug auf unsere natürliche Umwelt, sondern auch im Umgang mit uns selbst.
Achten wir mal drauf: Wenn die Protagonisten in amerikanischen Serien gezeigt werden, wie sie zu Hause Fernsehen schauen, dann läuft da gern mal eine Tierdokumentation. Meist keine beliebige, sondern eine, in der ein Raubtier gerade seine Beute verfolgt – Löwen und Antilopen scheinen beliebt. Im Fall eines Krimis kann dies als Anspielung auf die Aufgabe des Gesetzeshüters gelesen werden, aber fragen wir uns dennoch: In welcher Rolle sieht sich wohl der Detektiv? Wie denkt er von der Antilope, und – daraus abstrahiert – von seiner eigenen „Beute“? Oder noch weiter gefasst: Welche Ausformung sozialen und wirtschaftlichen Verhaltens rechtfertigt diese Vorführung der Natur als einer Arena mitleidslosen Konflikts?
Zu weit hergeholt? Im jeweiligen Einzelfall: Gut möglich. Die Häufung bestimmter Tierdokus in den Serien kann beispielsweise urheberrechtliche Gründe haben. Im grösseren Rahmen aber keineswegs. Wir müssen dafür auch gar nicht explizit nach Amerika schauen: Die Idee davon, „wie es in der Natur so zugeht“, diente zu allen Zeiten als Blaupause und als Rechtfertigung dafür, wie wir mit ihr und untereinander umgehen – ganz gleich, wie unvollständig unser Kenntnisstand diesbezüglich war.
Unvollständig wird unser Bild von ihr wohl auch zwangsläufig bleiben, ganz gleich, ob wir sie dämonisieren, romantisieren, mystifizieren oder rationalisieren. Doch dieses Eingeständnis vertreibt die anerzogenen, gesellschaftlich vermittelten Vorstellungen, Vorurteile und Idealbilder von Natur noch nicht aus unseren Köpfen. Das muss es auch nicht: Wir bedürfen der Naturbilder, um uns in der Welt überhaupt zurechtzufinden. Stattdessen können wir uns aber bemühen, sie uns einmal genauer anzuschauen, zu hinterfragen und gegebenenfalls vom potentiell schädlichen zum potentiell nützlichen zu wandeln. Anlass dazu findet sich ja.
Quellen und weitere Informationen:
Natur. Bedeutungen und Etymologie
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