Die kurze Erzählung geht so: Während wir heutzutage die Natur eher positiv bewerten, ihre Heilkraft loben und ihre Schönheit bewundern, begriffen unsere Vorfahren sie noch als Gegner, den zu unterwerfen und zu erziehen ihr gutes Recht und ihre Aufgabe war… Wie bei jeder verkürzten Geschichte zeigt sich die Wahrheit dahinter natürlich etwas komplizierter. „Die Natur“ erfuhr neben den negativen Zuschreibungen auch schon in der Vergangenheit viele wohlwollende. Doch ein Trend zu ihrer Abwertung lässt sich ausmachen. Diesem Bild der „bösen Natur“ wollen wir uns deshalb hier im zweiten Teil unserer aktuellen Artikelserie gleich mal widmen.
Parasiten, nicht-platonische
Allzu bequem sollten wir es uns in unserer vermeintlichen Aufgeklärtheit gegenüber den Altvorderen nicht machen. Mit nur einer Spur Einfühlungsvermögen können wir die Ohnmacht des neolithischen Bauern nachempfinden, den ein Hagelsturm seiner Ernte beraubte; den Zorn der sumerischen Mutter, deren Tochter nach einem Schlangenbiss mit dem Tod ringt; die Verzweiflung des Sohnes, der gerade seine Eltern, Geschwister, sein halbes Dorf unter einem Murgang begraben sieht. Die Neigung, hinter solchem Unglück böswillige Machenschaften zu vermuten, ist ebenso menschlich wie das Bedürfnis, darüber auch nur den Anschein von Kontrolle zu erlangen. Unsere modernen, vergleichsweise behüteten Lebensumstände sind direktes Ergebnis solcher Bestrebungen – wie zwiespältig wir sie rückblickend auch bewerten mögen.
Erst recht war die unverfälschte Wildnis, die uns heute so unwiderstehlich lockt, mit gutem Grund ein Schreckensbild. Nicht nur kam die einsame Verbannung in sie einem Todesurteil gleich, sie war auch ohne menschliches Zutun ein Schauplatz erbarmungsloser Dramen. Selbst Charles Darwin, der die Natur doch ehrfürchtig bestaunte und sich vor ihrer Anthropomorphisierung, „Vermenschlichung“ weitgehend hütete, zeigte sich von ihrer Grausamkeit öfter mal verstört: Wenn etwa Schlupfwespen ihre Eier in eine zielstrebig gelähmte Insektenlarve ablegten, damit ihr Nachwuchs diese dann lebendigen Leibes auffressen konnte. Wie sollten wir sowas, mittels unserer moralischen und empathischen Veranlagung, anders beurteilen als entsetzlich und falsch? Dass also mit der Natur irgendwas im Argen liegt, drängte sich auf. Sich vor ihren Mitteln und Wegen zu verwahren, konnte sich im menschlichen Miteinander nur als hilfreich erweisen.
Allerdings schossen wir in unseren von derlei Erfahrungen geprägten Naturbildern dann öfter mal übers Ziel hinaus. Als folgenreich sollte sich beispielsweise Platons Ideenlehre erweisen – und das keineswegs nur in akademischen Kreisen. Diese konstatiert – oberflächlich zusammengefasst – eine perfekte, eben „ideale“ Welt der geistigen Prinzipien neben unserer irdischen, leidgeprüften. In dieser Sphäre der urbildhaften, absoluten Formen ist unser wahrhaftes, reines Sein zu suchen; die irdische Existenz ist dagegen nur eine kümmerliche, mängelbehaftete – wo nicht gar eine hinterhältige Täuschung. Die zahlreichen Auslegungen dieser Gedanken verunglimpften dann schnell mal nicht nur die uns umgebende Natur, sondern auch gleich die menschliche. Denn, etwas weiter gedacht: War etwa nicht die Frau in ihrem Vermögen, makellose Seelen in einen leidensfähigen Körper zu sperren und in ein diesseitiges Jammertal zu gebären, eine allzu willige Helferin solch übler Irrwege? Doch in diese Urgründe der Misogynie wollen wir uns hier gar nicht erst begeben. Für unsere Zwecke genügt uns schon die dualistische Gegenüberstellung einer erhabenen, vergeistigten Seinsebene mit der sinnlich erfahrenen, schmerzvollen Natur als Beleg, wie sich das Szenario der böswilligen Natur tief in unsere Kulturen eingegraben hat. Dieser Weltentwurf durchdringt die Literatur, Mythologie, die Esoterik und den Mystery-Thriller bis heute, er ist uns allen sofort vertraut.
Schmeichler, Sünder, Spielverderber
Im Profanen wie im Religiösen führt die Abwertung der Natur üblicherweise zur Aufwertung des Menschen: Eine Schmeichelei, die wir uns gern gefallen lassen. In seinen in der Graphic Novel Blankets aufgearbeiteten Jugenderinnerungen zeichnet der amerikanische Comicautor Craig Thompson ein knappes Bild davon, was dieses Verständnis der Natur als bösem Gegenspieler unseres hehren Strebens im extremeren Fall mit uns machen kann. Er möchte seinen evangelikal strenggläubigen Vater vom Wert des Recyclings überzeugen. Der schmettert jedes derartige Ansinnen empört mit dem Hinweis darauf ab, dass Jesus ja bald wiederkehre und sie aus dem irdischen Sündenpfuhl erlöse. Und das war’s auch schon: Ende der Diskussion. Die Idee von der sündhaften Natur ist natürlich keine spezifisch christliche, und ganz allgemein bedarf das Bild der bösen Natur wohl keiner religiösen Verbrämung. Ihre Intention bleibt übergreifend grob dieselbe: Hier der verständige Mensch, dort die einfältige Natur, die in ihrer Verwendung für unsere Zwecke wenigstens noch einer hehren Bestimmung zugeführt wird.
Dass die lebendige Natur so einfältig gar nicht ist, schwante dabei selbstverständlich so vielen, die mit ihr im alltäglichen Kontakt standen. Doch das konnte mit dem Verweis auf ihre moralische Gleichgültigkeit abgefedert werden. Unentwegt reproduziert und ausgestaltet, verstärkte die Deutung der Natur als launischem, brutalem Spielverderber die Empfindung einer deutlichen Trennlinie zwischen uns und unserer Mitwelt. Begünstigt wird das von unserer Neigung zum bereits erwähnten Anthropomorphismus. Aus unserem menschlichen Erleben können wir uns kaum wehren, unserer Umwelt allerlei Absichten zuzuschreiben. Ganz so, wie wir im Handeln eines menschlichen Gegenübers innere Beweggründe erkennen, vermuten wir sie in allem weiteren – und bewerten sie im gleichen Sinn. Schenkt die Natur uns Blumen, ist sie freundlich; frisst sie unsere Ziege oder überflutet unser Dorf, ist sie vielleicht verärgert, sicher aber ungehobelt. Auch wenn wir solche Personifizierungen rational von uns weisen: In Formulierungen wie jener von der „Rache der Natur“ verraten sie sich immer wieder. Wir sind es so geübt, Handlungen aus dem Korsett der kooperativen Gepflogenheiten unserer Spezies zu bewerten, dass es uns ganz falsch vorkommt, das einmal nicht zu tun.
Dass aus solchen Gedankenbildern nur schwer ein unbefangen respektvoller, allseits erspriesslicher Umgang mit unserer ökologischen Umwelt zu basteln ist, müssen wir hier wohl nicht besonders betonen. So dienlich sie uns einmal gewesen sein mögen, so klar zeigen sich heute – angelegentlich der Folgen unserer gewaltig gewachsenen Anzahl und Gestaltungsmacht – ihre Unzulänglichkeiten. Wer „die Natur“ nur als schadhaften Abklatsch seiner idealisierten Phantasien erkennt, wird sich in ihrer Ausbeutung kaum gehemmt fühlen. Wem sie – in seinem inneren Weltendrama – stets mit dämonischer Fratze begegnet, wird ihr wohl höchstens musealen Wert zusprechen.
Wohin uns jetzt allerdings wenden, um ein förderlicheres Naturbild zu finden? Vielleicht zu seinem Gegenteil. Das hätte auch gleich den Vorteil, dass nicht nur die Abwertung, sondern auch die Verehrung der Natur bereits so einige Vorbilder kennt. Nächste Woche machen wir uns mal dahin auf.
Quellen und weitere Informationen:
Platon und die Ideenlehre
Lexikon der Biologie: Anthropomorphismus
Craig Thompson: Blankets
Kommentare (0) anzeigenausblenden