Neben der Vorstellung und der Abgrenzung von einer „bösen Natur“, wie wir sie letzte Woche erörterten, fanden sich stets auch die Vorstellungen und die Hinwendung zur Natur als einer Kraft des Guten. Obwohl: Stets? Sehr klar können wir diese Idee im heutigen Alltag verorten, wo Werbesprüche mit der Verwendung des Wörtchens „natürlich“ eine positive Wirkung suggerieren, natürliche Heilmittel eine schonende Genesung versprechen oder uns Reiseveranstalter mit dem erholsamen Erlebnis einer unberührten Natur locken. Wie zuverlässig sie sich auch in der Vergangenheit festmachen lässt, ist mit immer mehr Unwägbarkeiten belastet, je weiter wir in diese vordringen. Gleichwohl lässt sie sich zumindest erahnen. Folgt man dieser Spur zurück, verbindet sich das Bild der Guten Natur fast unausweichlich mit jenem der „Heiligen Natur“, weshalb wir auch von dieser Position aus starten wollen.
Native Naturbilder
Wenn wir schon ständig von Naturbildern sprechen, lasst uns doch mal ein paar Bilder beschwören: Ein Eichenhain, darin kapuzengewandete Druiden. Ein prähistorischer Jäger mit seiner frisch erjagten Beute, deren Opfer bedankend. Eine Weise Frau in ihrer einsamen Hütte mit von den Dachbalken herabhängenden Kräutern. Beim Totempfahl, neben dem Tipi, der ins fremdartige Ritual versunkene „Indianer“… Das alles sind zwar keine Naturbilder, wie wir von ihnen reden, aber doch stereotypische Imaginationen von Menschen, denen wir eine wertschätzende Verbundenheit zur Natur zuschreiben und in deren Köpfen wir ein animistisches, pantheistisches, totemistisches oder „heidnisches“ Weltbild verorten.
Im Animismus wird allen belebten und unbelebten Naturobjekten und -phänomenen ein „Geist“, eine „Seele“ zugeschrieben. Diese Allbeseeltheit macht eine Trennung von spiritueller und materieller Welt weitgehend überflüssig: Die Natur ist umfassend heilig und respektgebietend, in der rituellen oder auch nur ehrerbietigen Annäherung an sie bietet sich die Möglichkeit, sie zu beeinflussen. Anklänge daran werden beispielsweise im Schamanismus ausgemacht.
Der Pantheismus setzt „Gott“ und Kosmos, bzw. Gott und Natur, gleich. Das Göttliche zeigt sich einheitlich in allen Dingen; es kann darin zwar erkannt und gedeutet, aber kaum kontaktiert werden.
Im Totemismus werden unterschiedliche Symbole, Tiere oder auch unbelebte Naturerscheinungen zur persönlichen bzw. gruppeneigenen „Verwandtschaft“ gezählt. Die Totems stiften Identität, sind oft mit spezifischen Tabus belegt und dienen als Verbindung zu einer höheren Ordnung. Totemistische Vorstellungen finden sich oft in den sogenannten Naturreligionen indigener Völker wie bspw. den Aborigines oder den Natives Südamerikas.
Die Naturreligionen verbinden üblicherweise verschiedene Aspekte dieser Vorstellungen und Glaubenssysteme in uneinheitlicher Gemengelage miteinander. Als übergreifende Gemeinsamkeit lässt sich allenfalls eine sinnstiftende spirituelle „Aufladung“ der heimischen Natur und ihrer Zyklen ausmachen. Zwischen spirituellen und rationalen Mitteln ihrer Beeinflussung wird nicht speziell unterschieden.
Sowohl Animismus oder Pantheismus wie auch die „Naturreligionen“ indigener Gruppen sind sehr unscharfe und weitgespannte Begriffe (von denen sich sowohl Religionswissenschaften wie auch die Ethnologie deshalb schon weitgehend verabschiedet haben). Das stellt ein erstes Hindernis, das ihnen möglicherweise zugrundeliegende, positive Naturbild genauer zu fassen. Ganz zu schweigen davon, es anstandslos aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu übertragen. Selbst im geschichtlich breit erforschten Europa lässt sich nur spekulieren, ob und wie die Germanen, die Kelten, die Slawen die Natur verehrten, in welcher Rolle sie sich darin sahen und wie sich das in Ritualen und Alltagshandlungen niederschlug. Auch die überlieferten Sagen, Mythen, Märchen und Sagengestalten malen vom dahinterstehenden Naturverständnis kein bündiges Bild.
Animistische Animes
Immerhin findet sich wenigstens zur animistischen Praxis ein Beispiel, das uns davon eine Ahnung geben kann. Der japanische Volksglaube wimmelt von der Natur innewohnenden Geistern, Göttern und Kreaturen. Diese Kami (Naturgeister) und Yōkai (Monster oder Dämonen) sind im öffentlichen Bewusstsein höchst präsent und finden Abbildung nicht nur in der Folklore, sondern in zahlreichen Anime und Manga, Games und Filmen. Die (neunschwänzige) Füchsin Kitsune könnte einem etwa schon begegnet sein, die wuselnden Kami im Kinderfilm „Chihiros Reise ins Zauberland“ oder auch die Tiergötter im Anime „Prinzessin Mononoke“. Genauso präsent sind speziell die Kami in den etwa 80-90‘000 grösseren bis sehr kleinen heiligen Schreinen, in denen sie über ganz Japan verteilt „wohnen“ und von der örtlichen Bevölkerung beschenkt und um Glück oder Unterstützung gebeten werden. Inwiefern sie „die Natur selbst“ darstellen oder ihre Repräsentationen, Vermittler oder Wächter sind, dürfte der individuellen Deutung unterliegen. In jedem Fall verkörpern sie nicht nur Naturphänomene, sondern auch viel weiteres, das Macht ausstrahlt, Ehrfurcht gebietet oder auch nur einer besonders sorgfältigen Behandlung für Wert gehalten wird. Wie weit diese Philosophie der Schonung in die nationale Politik ausstrahlt, kann gewiss angezweifelt werden; im Privaten darf man ihr eine Wirkung zusprechen. Tatsächlich wurde die kulturgeschichtliche Funktion der Kami schon dahingehend gedeutet, im ressourcenschwachen Japan der Verschwendung und Gier einen Riegel zu schieben.
Europäisches Erbe
Die japanischen Naturgeister sind indessen nicht nur „gut“, und ebenso wenig ist das für altvordere westliche Äquivalente anzunehmen. Die Heiligkeit der Natur bedingt noch nicht, dass sie sich dann ausschliesslich wohlwollend und hilfreich zeigt. Um dem Bild der „guten Natur“ näher zu kommen, können wir jetzt aber zumindest wieder in heimische Landstriche zurückkehren. Spätestens mit der Aufklärung und dem „Zurück zur Natur“ von Jean-Jacques Rousseau bildete sich ein überwiegend positives Naturbild heraus. Im deutschsprachigen Raum prägte es – ausgerechnet, möchte man sagen – die Gegenbewegung zur Aufklärung: Die Romantik. Die Natur war nun edel, unbedingt schön, mystisch und lehrreich. Ihre Unberechenbarkeit stand dem nicht entgegen, sondern unterstrich nur ihre urtümliche Kraft. Sie bot den sehnsüchtigen Gegenpol zu den zunehmend menschenunwürdigen, von der beginnenden Industrialisierung verschmutzten Städten.
So sollte es sich fortsetzen: Je weniger sie sich unmittelbar ins eigene Leben einmischte, desto „besser“ wurde die Natur. In der Lebensreformbewegung am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts strebte man nach einem mal mehr, mal weniger frei phantasierten Naturzustand: Erbschaften der Lebensreform finden sich in den Reformhäusern, der Freikörperkultur (FKK), dem Birchermüesli und allerlei grundlegendem Gedankengut der biologischen Landwirtschaft. Da hinein drängten viele kreative, naturverbundene Kräfte und Ideen, aber auch völkische, nationalistische und mithin rassistische, die dann im nationalsozialistischen Weltbild nahtlos aufgehen konnten. Das war nicht so überraschend, wie es vielleicht scheinen mag. Die Lebensreform war in ihrem Kern konservativ: Sie imaginierte sich den idealen Naturzustand des Menschen ja in einer vorgeschichtlichen Vergangenheit. Dahin zurückzufinden war das Ziel, und das blieb es dann auch – mit unterschiedlichem Gewicht – in verschiedenen Natur- oder Heimatschutzbestrebungen bis heute. Ein Ausbruch daraus vollzog sich im Aufkommen der Ökologiebewegung, die die Aufmerksamkeit mehr auf die systemischen Vernetzungen unter den Ökosystemen legte und die menschlichen Einflüsse unmittelbar einbezog. Sie orientierte sich damit stärker auf ein gegenwärtiges Handeln in die Zukunft hinaus und prägte die heutige Wahrnehmung der Umweltschützerinnen als einer eher linken, progressiven Clique.
Disruptive Dualismen
Das Bild der „guten Natur“, wie es sich heute präsentiert, ist – plakativ vorgetragen – das einer unbedingt wohlwollenden, behütenden, heilsamen und sinnstiftenden Kraft. Es beschwört Vorstellungen von Harmonie, zyklischer Erneuerung und lebendiger Stille und zeigt sich als ein Potpourri sowohl konservierender wie revolutionärer, gesundheitsbewusster wie artenschützerischer Ideen. Das darf genau so sein: Wertebewusste Kulturkritik dient dem Klima- und Umweltschutz ebenso wie tätige Revitalisierung und utopische Vision. Und ganz gewiss animiert das positive Naturbild stärker zu deren vorausschauendem Schutz als das negative, das in „der Natur“ hauptsächlich einen zu überwindenden Gegner erkennt.
Dennoch sind wir mit dem unkritisch beförderten Naturbild einer „guten Natur“ als Richtwert zur Nachhaltigkeit noch nicht abschliessend zufrieden. In seiner ideologischen Diversität trägt es zum einen stets die Gefahr verschiedener Zielkonflikte in sich, wie sie sich bereits vermehrt manifestieren. Fördern wir nun die erneuerbare Windenergie, oder schützen wir die Fledermäuse? In seiner unkritischen Lesart birgt es weiterhin stets den Keim der Frustration: Wenn die Natur plötzlich nicht mehr gut ist, sondern störend oder gefährlich, wie reagiere ich auf diesen Verrat? Während dies beides gewiss überwindbare Problemstellungen sind, sehen wir zudem einen grundlegenderen Angriffspunkt. Das Naturbild der guten, heilkräftigen, wohlwollenden Natur verlegt sie ganz ähnlich dem der „bösen“ in ein Äusseres. Es erkennt sie hauptsächlich im traditionellen Gegensatz von Natur und Kultur: Auch auf der Suche nach der guten Natur bewege ich mich aus der menschlichen Kulturwelt hinaus. Doch diese Vorstellung ist illusorisch, das implizierte Kräftegleichgewicht realitätsfern. Tatsächlich ist unsere Kultur, unser gesamtes menschliches Dasein unentrinnbar Teil der Natur, eine Trennwand baut sich allenfalls in unserem Kopf. Um uns zukunftsfähig in den Ressourcenhaushalt unserer natürlichen Mitwelt einzupassen, müssen wir uns dessen klar sein.
Wir haben nun die anzutreffenden Naturbilder von zwei gegenüberliegenden Enden aufgezäumt. Dass dazwischen noch viele weitere, differenziertere liegen, ist uns natürlich bewusst. Wir haben das aber getan, um auf die Gemeinsamkeiten der vermeintlichen Gegensätze hinzuweisen: Im Folgenden werden wir versuchen, aus den bequemen Dualismen auszubrechen…
Quellen und weitere Informationen:
Relilex: Naturreligionen
Uni Wien: Schreine in Japan
geschichte-lernen.net: Lebensreform
zeit.de: Lebensreformbewegung und NS
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