Der Beginn liegt im Spekulativen. Doch dann war da plötzlich ein kleines lebendiges Ding im Wasser, geborgen in einer Hülle von Lipiden und fähig, sich zu teilen. Das tat es fleissig, bis das Wasser voller kleiner lebendiger Dinge war. Einige davon begannen, sich zusammenzutun. Jetzt – als Pflanzen oder Tiere – bildeten sie immer neue Formen und Fähigkeiten aus; auch jene, an Land zu überleben. Sie wurden dabei beständig komplexer und besser in dem, was sie taten. Sie wurden grösser, flinker, zäher oder verständiger, bis endlich ein paar besonders verständige Wesen sich aufmachten, die Welt zu erobern: Wir. Die Menschen.
Neben den emotionalen, moralischen oder ästhetischen Charakterisierungen, mit denen wir unsere Naturbilder färben, enthalten diese viele spezifische Ideen davon, wie die Natur funktioniert. Auch diese Vorstellungen gestalten unser Erleben, unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Natur. Obige Evolutionserzählung dürfte so (oder so ähnlich) in so manchem Kopf umherspazieren. Zwar führt sie an einem fundamentalen Punkt in die Irre. Dafür müssen wir uns aber nicht allzu sehr schämen: Wir haben sie uns ja nicht ganz allein ausgedacht.
Stammbäume
Die Geschichte darüber, wie sich das Leben auf unserer Erde zielstrebig und absichtsvoll zum Menschen hin entwickelte, hat bereits einen ersten Irrtum hinter sich gelassen. Über die Kränkung, als Mensch nicht speziell und ausserhalb der Natur geschaffen, sondern mit allem weiteren Leben direkt verwandt zu sein, sind wir (zumindest in der breiteren Bevölkerung) indessen hinweggekommen. So ganz liessen wir uns diese Herabsetzung dann allerdings trotzdem nicht gefallen. Ein Sonderstatus war immer noch greifbar, schliesslich blieben wir unstrittig die intelligentesten Tiere – insofern die Definition von Intelligenz ja auch nur uns oblag. Der Rang als Krone der Schöpfung blieb demnach vorerst unangetastet. Die Evolution zielte auf uns. Das hätte der erste wegweisende Gestalter der Evolutionstheorie, Charles Darwin, zwar wohl nicht so betrachtet. In seiner berühmten frühesten Skizze eines Lebensbaums zeichnete er in seinen Notizbüchern keinen ordentlich gewachsenen Baum, sondern ein Gestrüpp von Lebensästen, die sich ziellos nach allen Richtungen wenden:
Von einer aufstrebenden Entwicklung hin zum Menschen ist da erst mal nichts zu erkennen. Doch das wurde dann schnell berichtigt. Die Lebensbäume, die bald darauf und über die längste Zeit die Biologie-Schulbücher zierten, wussten die Stellung des Menschen in der Natur klar auszuweisen:
So wie in diesem „Stammbaum des Menschen“ von Ernst Haeckel schauten wir weiterhin von oben auf die restliche Lebenswelt hinab. Der Hauptstamm, das war einsichtig, lief geradewegs zu uns. Dass das Unsinn war, war der Biologie schon bald einmal klar. Das Bild indessen hielt sich standhaft, nicht zuletzt wohl, weil es intuitiv verständlich und schön anschaulich war. In den letzten Jahren haben sich gleichwohl verschiedene biologische Systematiken daran versucht, eine realistischere Darstellung zu finden.
2008 zeichnete beispielsweise der Evolutionsbiologe David Hillis den „Lebensbaum“ als einen grossen Kreis, an dessen äusserem Rand sich alle gegenwärtigen irdischen Lebensformen gleichberechtigt wiederfinden. Er lenkt damit die Aufmerksamkeit unter anderem darauf, dass sich alle Lebensformen stets weiterentwickeln. Keine Spezies blieb einfach plötzlich auf einem „niederen“ Entwicklungsgrad stehen, jede evolviert ihrem Lebensraum angepasst immer weiter. Jede steht an der Spitze ihres Entwicklungsstrangs. Der Mensch mitsamt seinen Anpassungen kann diesbezüglich keinen herausgehobenen Status in Anspruch nehmen. Er bleibt damit nicht weniger einzigartig – so einzigartig wie jede andere Spezies auf Erden.
Andere Modelle verbildlichen die biologische oder evolutionäre Systematik als komplexe Netzwerke oder erinnern im visuellen Aufbau an Mandelbrot-Fraktale. Doch möglicherweise können auch all diese näher an der Wirklichkeit orientierten Darstellungen an einer tieferliegenden Vorstellung nicht rütteln.
Eine neue Geschichte
„Die Natur“, oder genauer die Evolution, kennt keine zielgerichtete Entwicklung. Sie erzählt auch keine sinnvollen Geschichten. Das stellt eine eigene Herausforderung dar, wenn es mit unseren Denkgewohnheiten kollidiert. Um uns die Welt zu erklären, erzählen wir Menschen uns Geschichten, und Geschichten haben eine Struktur: Sie beginnen, sie wandern, und wenn sie enden, ist gleichzeitig ein Ziel erreicht – eine Lektion gelernt, eine Feind besiegt oder eine Ehe geschlossen.
Eine besonders wirksame „Geschichte“, die wir uns schon seit längerer Zeit erzählen, ist jene des Fortschritts. Der Begriff des Fortschritts selbst ist zwar schwierig zu definieren, aber als eine zielgerichtete Bewegung hin zum Besseren, Bequemeren oder Ausgereifteren schwingt der Fortschrittsgedanke in unseren Zukunftserwartungen doch recht selbstverständlich mit. Das war nicht immer so. Eine andere Erzählung, die ebenfalls noch verschiedentlich anzutreffen ist, zeichnete ein gegenteiliges Bild der Weltentwicklung: Weg von einem fernen, legendären „Goldenen Zeitalter“, als die Welt noch funktionierte, wie sie sollte, hinab in den unausweichlichen Niedergang und ein – vielleicht erhebendes? – Ende. Daneben fanden sich auch immer wieder Kulturen, die sich den Weltenlauf in Zyklen dachten. Angelehnt an die Phänomene der Mondphasen oder der Jahreszeiten ging die Erwartung dann dahin, dass alles ständig und gleich wiederkehre. Nicht besser, nicht schlechter, nur so.
All diese Erzählungen finden aus unserer Lebenserfahrung in unserem kulturellen Umfeld ihre Rechtfertigung. Doch auf die Naturprozesse, wie wir sie gesichert beobachten können, sind sie schon strukturell nicht übertragbar. Die Natur selbst kennt weder einen anzustrebenden Fortschritt noch einen vergangenen Idealzustand. Sie kennt auch keine Zyklen des Ewiggleichen – selbst wenn uns das aus der Perspektive unserer kurzen Leben so scheinen mag. Und im Gegensatz zu unseren abgeschlossenen Geschichten versucht das Leben nach Kräften, nicht zu enden. Wollen wir die Natur in unserem Naturbild wirklichkeitsgetreuer abbilden, brauchen wir also eine neue Geschichte – oder sogar eine ganz neue Form von Geschichten. Diese zu gestalten, ist eine der Aufgaben, um zu einem neuen, an Nachhaltigkeit orientierten Naturbild zu gelangen. Daran, auch noch das letzte Stück des Weges zu gehen und uns von der eitlen Idee unserer Sonderrolle im Geflecht des Lebens endgültig zu verabschieden, werden wir dabei aber wohl nicht noch einmal vorbeikommen.
Quellen und weitere Informationen:
Abbildungen im Text: Wikimedia Commons
Open-Source-Projekt Tree of Life
SCNAT: Biodiversität erklärt - Systematik
Interaktiver Lebensbaum
Kommentare (0) anzeigenausblenden