Riesiges Potential entdeckt
Verlässlich und regelmässig steigt und sinkt der Meeresspiegel an den Küsten im Rahmen der Gezeiten. Diese periodischen Wasserstandsänderungen werden bisher erst selten für die Energiegewinnung genutzt, beispielsweise im Gezeitenkraftwerk La Rance in der Bretagne. Gemäss einem Bericht der Europäischen Umweltagentur betrug ihr Beitrag an die gesamte Energieversorgung im EU-Raum im Jahr 2012 nur 0,04 Prozent; die EU rechnet aber mit einem immensen Wachstum. Bei der walisischen Stadt Swansea ist die Planung eines grossen Gezeitenkraftwerks im Gange. Dazu wird eine künstliche Lagune mit 9,5 Kilometer langen Staudämmen errichtet. Während der Flut fliesst das Wasser über die Turbinen in die Lagune hinein, so lange, bis der Höchststand erreicht ist. Dann werden die Durchlässe verschlossen und aussen im offenen Meer fällt der Wasserstand während der Ebbe ab. Wenn der Wasserstand aussen im Meer den Tiefststand erreicht hat, werden die Turbinendurchlässe wieder geöffnet und das ausströmende Wasser treibt die Turbinen so lange an, bis der Wasserstand innerhalb und ausserhalb der Lagune wieder gleich hoch ist. Die Bucht bei Swansea ist für ein solches Lagunenprojekt besonders gut geeignet wegen des bis zu 10 Meter hohen Tidenhubes – dem Unterschied zwischen Ebbe und Flut.
Nicht günstig, aber langlebig
Gezeitenkraftwerke sind wie jede Form der Energienutzung nicht ohne Folgen für die Landschaft und die Natur. Je nach Grösse des Projektes und des Kraftwerktyps beeinflussen Gezeitenkraftwerke die Natur unterschiedlich. Staudammprojekte durch ganze Flussmündungen und Buchten sind umstritten. Das Lagunenprojekt bei Swansea – Tidal Lagoon Swansea Bay – ist naturverträglicher als ein Staudamm. Die örtlichen Flüsse münden ausserhalb des künstlichen Dammes ins Meer, womit die natürliche Dynamik in den Mündungsgebiete erhalten bleibt. Das geplante Gezeitenkraftwerk erbringt eine Leistung von 320 Megawatt, was etwa einem Drittel der Leistung des Atomkraftwerks Gösgen entspricht.
Gezeitenkraftwerke sind nicht günstig, sie sind aber sehr viel langlebiger als Offshore-Windanlagen und Atomkraftwerke – so können Lagunenkraftwerke bis 120 Jahre halten, wie das Ingenieurunternehmen Pöyry in einer Studie berechnet hat. Ausserdem ist die Verfügbarkeit der Energie gut kalkulierbar, sogar über Jahrhunderte hinaus.
Auswirkungen auf die Natur noch kaum erforscht
Studien zu Auswirkungen auf die Tier- und Pflanzenwelt die Wasser- und Sedimentbewegungen gibt es bisher wenige. Forscher um Chris Frid (2011) haben die bisherigen Forschungsergebnisse in einem Fachartikel in der Fachzeitschrift Environmental Impact Assessment Review zusammen getragen. Insbesondere die Gezeitendämme können grosse Auswirkungen auf Vogelpopulationen haben, wenn sich die Dynamik von Ebbe und Flut verändert: So verschwinden Plätze, an denen sie nach Futter suchen können. Der Lebensraum Meeresboden könnte ebenfalls verändert werden: So könnten beispielsweise Seegraswiesen versanden und die Jungpflanzen absterben. Die Ablagerung von organischem Material könnte hingegen das Wachstum von Wirbellosen fördern, ebenso bieten neue Strukturen eine Vielzahl von Verstecken oder Ankerplätzen für festsitzende Tiere.
Fische und Meeressäuger: Die Rotationsgeschwindigkeit macht’s aus
Für Fische stellen die sich drehenden Turbinen je nach Drehgeschwindigkeit und Anordnung ein Risiko dar: Drehen sich die Turbinenrotoren lediglich mit 25 bis 50 Umdrehungen pro Minute, sei die Gefahr für Fische gering, schreiben die Forscher. Würden Turbinen in Röhren platziert, ist die Strömung und der Wasserdruck sehr hoch und die Organismen haben sehr geringe Chancen zu entkommen oder die Durchlässe zu meiden. Werden die rotierenden Elemente jedoch nicht in Röhren angebracht, ist kaum von einer Verletzungsgefahr auszugehen. Kaum erforscht sind die Auswirkungen auf Meeressäuger. Das ‚US Department of Energy‘ geht davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Wale und andere Meeressäuger die Anlagen nicht erkennen würden, klein ist. Denn: Sie können mithilfe der Echoortung die Hindernisse erkennen und ausweichen. Für Seevögel seien nur geringe Auswirkungen zu erwarten – mit Ausnahme von tieftauchenden Arten (Alkenvögel wie Lummen, Gryllteiste, aber auch Kormorane), die die drehenden Rotorblätter fälschlicherweise als Beute interpretieren und sich dabei verletzen könnten.
Nicht ganz ohne Lärm
Der Bau solcher Anlagen ist mit Lärmemissionen verbunden. So fallen insbesondere das Einschlagen von Pfeilern und allfällige seismische Erkundungen ins Gewicht. Dazu gäbe es kaum Studien, schreiben die Forscher. Während der Bauzeit von Offshore-Windanlagen vor Dänemark haben Forscher beobachtet, dass weniger Schweinswale während dem Einschlagen der Pfeiler in der Nähe der Baustellen gesichtet wurden und eine kurzzeitige Abnahme der Echoortungsaktivität konnte verzeichnet werden. Beim Betrieb der Anlagen ist die Lärmbelastung ökologisch irrelevant, vermuten die Forscher; es sei denn, viele Anlagen seien räumlich eng beieinander angeordnet: „Die kumulierte Lärmproduktion von einer grossen Anzahl Anlagen hat das Potential die Kommunikation und Echoortung, welche die Wasserorganismen in der Nähe dieser Anlagen produzieren, zu überdecken“, schreiben sie in ihrer Publikation.
„Die kumulierte Lärmproduktion von einer grossen Anzahl Anlagen hat das Potential die Kommunikation und Echoortung, welche die Wasserorganismen in der Nähe dieser Anlagen produzieren, zu überdecken.“
Chris Frid und Forscherkollegen
Gezeitenkraft statt Atomkraft
Der Vorteil der Gezeitenkraftwerke liegt in ihrer berechenbaren Energieerzeugung und ihrer Langlebigkeit. Werden sie abgebaut, so stellt sich sehr rasch wieder ein Gleichgewicht am ehemaligen Standort ein; denn diese sind von Natur aus von einer grossen Dynamik geprägt. Für Gezeitenkraftwerke geeignet sind nur wenige Standorte weltweit, die über einen Tidenhub von mehr als 6 Meter aufweisen müssen. Andere Formen der Gezeitenenergie sind leichter umsetzbar und so sind in Europa über 100 Standorte bekannt, an denen die Energie der Wellen für eine saubere Energiezukunft genutzt werden können. Würden weltweit alle möglichen Standorte optimal genutzt, so könnten die Gezeitenkraftwerke etwa 40 grosse Atomkraftwerke ersetzen.
https://www.umweltnetz-schweiz.ch/themen/energie/1829.html#sigProIdda208adb31
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