Von Störfällen und anderen Umweltsünden

Radioaktive Strahlung ist unsichtbar. Radioaktive Strahlung ist unsichtbar.

Tschernobyl und Fukushima sind die Namen, die genannt werden, fragt man nach Atomkatastrophen. Doch die Risiken der Atomkraft haben sich noch oft auch andernorts bewiesen. Wir begehen uns in den Ural, an den Fluss Tetscha.

 
Seit den Anfängen des Atomzeitalters gab es immer wieder Vorfälle, bei denen kleinere bis grössere Mengen an Radioaktivität in die Umwelt gelangten. Ob beim wenig beachteten Zwischenfall oder katastrophalen Gau, ob als Atommüllentsorgung oder Atomwaffentest; seitdem die Menschen diese Technologie für Bomben und Energiegewinnung entdecken, haben wir auch unsere Erde damit verändert, verschmutzt und verseucht. 

Die Gefahr der Radioaktivität ist unsichtbar, man riecht und schmeckt sie nicht, und trotzdem kann die radioaktive Strahlung höchst gesundheitsschädlich sein. Doch egal ob im russischen Majak bei Osjork oder den Rocky Flats bei Denver im US-Bundestaat Colorado: Stets wurde die Bevölkerung im Unwissen gelassen, was genau in ihrer Umgebung vor sich geht. In Majak, am Fluss Tetscha, blieb das über dreissig Jahre so. 

Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Plutoniumfabrik Majak im Südural überstürzt und mit fehlenden Sicherheitsvorkehrungen gebaut, um Atombomben herstellen zu können. Mehrere schwere Zwischenfälle und die schlampige Entsorgung des Atommülls verseuchen bis heute die Region. Nach Angaben der deutschen Gesellschaft für Anlagen und Reaktorensicherheit kam es zwischen 1948 und 2008 insgesamt zu acht dokumentierten, schwerwiegenderen Ereignissen.  
1948 nahm der erste Majak-Reaktor den Betrieb auf. Jahrelang wurden radioaktive Abfälle, überwiegend Caesium-137 und Strontium-90, in den Fluss gekippt, aus dem die Bewohner der Dörfer flussabwärts ihr Trinkwasser bezogen, an dem ihre Kinder spielten und badeten. Noch heute übersteigt die Strahlung am Flusslauf bis zum Sechzigfachen den Wert, den die russischen Gesundheitsbehörden für zulässig erklären. Der Aufenthalt in Flussnähe ist deshalb verboten.  

Der katastrophale Unfall im Jahr 1957, bei dem ein Betontank mit mehreren Tonnen hochradioaktiver Flüssigkeit explodierte, gilt heute als einer der schwersten nuklearen Unfälle - nur die beiden weitaus bekannteren GAUs in Tschernobyl und Fukushima hatten zerstörerischere Ausmasse. Die freigesetzte radioaktive Wolke stieg in bis zu 1000 Meter Höhe und verseuchte einen etwa 8 Kilometer breiten sowie 110 Kilometer langen Streifen Land östlich des Betriebsgeländes. Die damals von der Universität München gemessenen Strahlenwerte in Bayern waren doppelt so hoch wie später nach dem Gau von Tschernobyl. Bis in die 70er-Jahre von den russischen Behörden vertuscht, gab es zwar vereinzelte Umsiedlungen, einige Dorfbevölkerungen verblieben aber bis 2007 in der Region. Offiziell wurde der Zwischenfall erst 1989 bekanntgegeben. 

Laut staatlichem Atomkonzern und Majak-Betreiber Rosatom sind seit 1956 keine Abfälle mehr in die Tetscha geleitet worden. Umweltschützer bezweifeln dies, aber auch ganz unbesehen davon blieb die Entsorgung danach alles andere als umweltfreundlich. Das radioaktive Wasser wurde kurzerhand im See Karatschai, der keinen oberirdischen Ablauf besitzt, entsorgt. Durch eine Dürreperiode im Jahr 1967 trocknete der Karatschai-See aus, der Wind verteilte die radioaktiven Ablagerungen aus Staub und Dreck über Hunderte von Kilometern. Um weitere radioaktive Verseuchungen zu verhindern, wurde der See zwischen 1978 und 1986 mit Beton-Hohlkörpern aufgefüllt und vollständig abgedeckt. 2015 wurde er geleert und zubetoniert. Der Karatschai-See war für Jahrzehnte das radioaktivste Gewässer der Welt. Ein Aufenthalt von einer Stunde an seinen Ufern konnte tödlich enden. Auf Satellitenbildern ist zwar heute kein Wasser mehr zu sehen, trotzdem bleibt es einer der schwerstverseuchten Orte der Welt. 

Doch zurück an die Tetscha. Erst 1993 erfuhren die Menschen in den verbliebenen Dörfern, dass die Tetscha kontaminiert war. In der Region berichteten die Ärzte von auffällig vielen Fälle von Magen-, Kehlkopf- oder Lungenkrebserkrankungen, mit steigender Zahl der Erkrankten. Von den 30 000 Flussanwohnern sind mittlerweile 2300 an Krebs gestorben. In Majak selbst arbeiteten zwischenzeitlich bis zu 25.000 Menschen an 10 Reaktoren. 
Bis heute ist die Anlage mit 2 Reaktoren in Betrieb. Sie dient der Isotopenherstellung für die Medizin und Wissenschaft, vor allem aber zur Aufbereitung von abgebrannten Brennstäben - Länder wie die Ukraine, Bulgarien und Ungarn exportieren ihren Atommüll in den Ural. Und bis heute gibt es regelmässig Zwischenfälle. Ein Vorfall der dritthöchsten Kategorie fand Ende September 2017 statt: Europäische Messstationen meldeten erhöhte Werte des radioaktiven Ruthenium-106. Auch der russische Wetterdienst Roshydromet verzeichnete 986mal höhere Werte, als in den Vormonaten in der Nähe von Majak gemessen wurde. Die deutsche Bundesregierung sprach in einer Antwort auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag von „einem Atomunfall der dritthöchsten Kategorie auf der internationalen Bewertungsskala INES“. Laut dem Atomkraftwerkbetreiber Rosatom habe es indessen „keinen Zwischenfall und keine Panne“ gegeben: Was zu den hohen Ruthenium-Werten führte, sollen weitere Untersuchungen zeigen. Umweltschützer und Anwohner vermuten eine Panne bei der Wiederaufarbeitung der atomaren Abfälle. Sie fordern Aufklärung und die Schliessung der Anlage Majak. 

Nicht überall und jederzeit mögen die Sicherheitsvorkehrungen von Atomkraftwerken derart versagen wie im Ural. Immer wiederkehrende Fast-Unglücke, Störfälle und ausgemachte Katastrophen auch an anderen Orten zeigen aber, dass die Risiken der Atomkraft bis heute nicht so zuverlässig eingedämmt sind, wie man gerne glauben möchte. 
 
 
 
 
 
 
 
 

Quellen und weitere Informationen:  
NZZ: Das strahlende Erbe der Sowjetzeiten
Spektrum: Die Reaktor Katastrophe von Majak

  

 

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