Im ersten Teil unserer kleinen Kulturkritik des Wörtchens 'natürlich' stellten wir fest, wie ungern sich dieses auf eine stabile Definition seiner Bedeutungsinhalte festnageln lässt; quasi ein Wohlfühlwölkchen, das sich bei näherer Untersuchung als eine Nebelbank entpuppt. Das müssen wir deshalb hier im zweiten Teil, in dem wir uns seinen Varianten im Kontext von Gesundheit und Ernährung widmen, nicht noch einmal tun, sondern stürzen uns sogleich auf weitere ihm vorherrschend innewohnende Assoziationen. Später ergehen wir uns noch in einem kurzen Schlagabtausch mit seinem Schatten, dem Kobold Unnatürlichkeit.
Die Schulweisheit vom Quant
Die alternative bzw. komplementäre Heilkunst lädt uns ein als die natürliche(re) Ahne der modernen Medizin. Bei näherem Hinsehen stellen wir fest, dass es eigentlich eine ganze Sippschaft ist, die sich nur ähnlich kleidet. Unser investigativer Besuch gälte der respektablen Phytotherapie (von Freunden auch Pflanzenheilkunde genannt), die dort drüben in ihrem Kräutergärtchen sitzt und Kamille stampft. Doch auf dem Weg zu ihr tanzen uns allerlei charmante, wenn auch etwas zwielichtige Gestalten vor die Füsse. Angetan sind diese, ganz ähnlich der Phytotherapie, mit den Begriffen natürlich, sanft und schonend. Sie zeigen sich gern auf lauschigen Waldlichtungen und in Gesellschaft von Elementargeistern oder Quanten. Was sie uns an 'natürlichen Heilkräften' anzubieten haben, entspricht aber nach keiner unserer unscharfen Definitionen der Natur: Also nicht das, was die Menschheit an beobachtbaren Phänomenen dieser Natur fleissig zusammentrug und als schlüssig und relativ verlässlich erkannte. Sie bieten stattdessen feinstoffliche Materie, arkane Schwingungsenergien und verschiedenerlei überirdische Helfer. Im besten Falle meinen sie damit noch Selbstheilungskräfte, welche natürlich 'natürlich' sind - aber die haben wir ja sowieso, auch ohne Astralleib. Bezüglich unserer Erkundungen ausgewählter Implikationen des Natürlichkeitsbegriffs dienen sie uns jedenfalls kein Stück, auch nicht, nachdem sie uns darauf hinweisen, dass es da draussen mehr Ding' gäb, als unsere Schulweisheit und träumen lässt. (Unsere Schulweisheit weiss tatsächlich nur, dass Hamlet ein seltsamer Mann war, und dass der Adressat dieser Weisheit, der Totengräber Horatio, in deren indirekter Folge sehr viel zu tun bekam.) Deshalb verspüren wir kein allzu schlechtes Gewissen, die mannigfaltigen Eingeweihten des elitären Geheimwissens zu ignorieren und uns ehrfurchtsvoll der Grossmutter zu nähern.
Bei Grossmuttern, im Kräutergarten
Natürliche Heilmittel sind schonend und sanft. Soviel, meinen wir, ist klar. Als wir dies der Phytotherapie allerdings mitteilen - attraktiv verpackt in die Frage, weshalb sie denn schonend und sanft sei - zieht ein kurzes Unwetter über ihr Angesicht, und sie kommt uns mit Paracelsus. Ein jedes Ding... giftig... Mass... Sie wissen schon. Mit dem sie umwirbelnden Reigen scheint sie sich, so meinen wir zu erkennen, nicht recht gemein machen zu wollen. Ungeachtet dieses ruppigen Starts verbringen wir einen beschaulichen Nachmittag mit der honorigen Ahnherrin der wirkkräftigen Medizin und Pharmakologie, während dessen sich das Gespräch in beunruhigender Spirale immer enger um das ungeliebte Thema Chemie dreht. Leben, lernen wir, ist Chemie. Vielleicht ist es noch mehr, aber in jedem Fall gäbe es ohne Chemie kein Leben, wie wir es erhalten wollen, wenn wir die Hilfe der Medizin suchen. Da sich nun unsere körpereigene Chemie von Hämmern und Sägen nicht besonders zielstrebig umsortieren lässt, sind wir gut beraten, auf diesbezügliche Unstimmigkeiten mit ebenfalls chemischen Mitteln Einfluss zu nehmen. Dies taten unsere Ahnen, indem sie nach dem Trial-and-Error-Prinzip auf eine prächtige Schatztruhe von chemischen Verbindungen in den Pflanzen und auch Tieren ihrer Umgebung zugriffen. Dabei blieb mancher Error stehen, wenn beispielsweise ein Nashornhorn so standhaft seine Erektion beibehielt, dass es diesbezüglich einfach helfen musste. Gleichwohl war diese Fehlbarkeit um Längen besser, als die Hände in den Schoss zu legen und demütig abzunibbeln. Aber was schwatzen wir: Unsere Leserschaft weiss das alles schon, und ebenso weiss sie, dass die Ärzte und Apotheker solange nach den gewünschten Wirkungen all dieser Pflanzenbrühen, -öle und -salben stocherten, bis sie auf die verheissungsvolle Kunst der Alchemie stiessen und wenig später zu grossen, unheimlichen Pharmakonzernen mutierten.
Die Schonung und Sanftheit der ursprünglichen, pflanzlichen Heilmittel ergibt sich aus ihrer geringeren Potenz, und insoweit lässt sich ihr diesbezüglicher Anspruch auch verteidigen. Es bleibt aber zu beachten, dass die kopfwehwegmachende Acetylsalicylsäure in Weidenrinde nur eine von vielen dort versammelten Wirkstoffen ist. Es sind in der Tat in jeder beliebigen Pflanze so viele verschiedene biochemikalische Moleküle mit noch mehr gegenseitigen Einflussmöglichkeiten, dass es den peniblen Chemiker zur Verzweiflung treibt. Während wir gern davon ausgehen dürfen, dass die meisten davon unserem Organismus recht gleichgültig oder gar dienlich sind (ansonsten die Menschheit längst von unablässigen Allergieschocks und Vergiftungen dahingerafft wäre), gilt dies offensichtlich nicht für alle. Kamillentee und Ringelblumensalbe dürfen sich deshalb Schonung unseres Stoffwechsels solange gutschreiben, wie sie nicht in übermässigen Mengen konsumiert werden. Die zusätzlich beinhalteten Wirkstoffe können indessen sehr wohl zu individuellen Nebenwirkungen Anstoss geben.
Die Überstrapazierung des Bildes der Natur als einer schonend-wohlwollenden Fürsorgerin kann im Weiteren zu weniger harmlosen Wahrnehmungsverschiebungen führen. Als eine gewiefte Künstlerin, die sich alle Möglichkeiten offen lässt, erschafft sie auch Parasiten und Ebolaviren. Wenn also, wie unlängst mal wieder, von Impfgegnern behauptet wird, dass Pocken und Masern ganz natürlich seien, so liegen sie richtig. Doch wenn sie dies im Glauben tun, dass Pocken oder Masern hauptsächlich dafür existierten, das Immunsystem ihrer Kinder zu stärken, haben sie ihre Position in der Natur nicht recht verstanden. So dankbar wir dieser sein dürfen für all die Dienstleistungen, die sie unserem Dasein erbringt: Unser exklusiver Dienstleister ist sie nicht.
Doch wir schweifen ab. Wir wollten uns ja, zusätzlich zur gebührend relativierten Sanftmut der Natur, auch noch mit einer ihrer weiteren Wesenszuschreibungen beschäftigen. Zu deren Würdigung verabschieden wir uns von Frau Phytotherapie und wandern zu einer nahegelegenen Höhle. Darin wohnt der gräuliche Steinzeitmensch. Er löffelt ein Birchermüesli.
Essen! und das Höhlengleichnis von der Unnatürlichkeit
Die Ernährungsfrage beschäftigt uns Menschen, nicht ganz zu Unrecht, ständig. In unseren Breiten eingestandenermassen nicht die Frage, wie wir uns überhaupt, sondern wie wir uns gesund, richtig, natürlich ernähren. Beistand hierzu suchen wir vermehrt beim Steinzeitmenschen, denn 'natürlich' bedeutet in diesem Zusammenhang gern: Traditionell, unserer Natur und gattungsspezifischen Evolution entsprechend, wie zu den guten alten Zeiten. Leider zeigt sich unser Steinzeitmensch nicht besonders kooperativ. Unsere Anfrage, was er denn den lieben langen Tag - ausser Birchermüesli - so esse, beantwortet er mir unwirschem Grummeln, und er taut erst auf, als wir uns nach der Bedeutung all der Handabdrücke auf seiner Höhlenwand erkundigen. Von hier startet er sofort in ein uns schwer verständliches philosophisches Gleichnis von Schatten und der menschlichen Wahrnehmung, kommt dann aber doch zum Punkt: Er isst, was ihm vor die Finger kommt und nicht komisch riecht. Vernünftig, denken wir, doch leider kaum eine Hilfe. Denn der Menschheit kam auf ihrem Eroberungszug um die Erde so ziemlich alles vor die Finger, was diese an Essbarem hergibt, und das stutzt unseren Speiseplan der 'natürlichen Ernährungsweise' nur ungenügend zurecht. Als kreative Opportunisten assen wir also viele Früchte, wo wir viele Früchte fanden, und wo uns ständig Rentiere begegneten, eben Rentiere. Wenn uns diese dann dennoch ausgingen, halfen wir ihnen, sich zu unserem Nutzen zu vermehren. Diese Bedeutungsebene der Natürlichkeit scheint den Weg aller anderen zu gehen.
Unser Steinzeitmensch hat sowieso andere Probleme. Als er unlängst ein Feuer entzündete, um darüber etwas Lauch in heissem Wasser einzuweichen, entsprang jählings ein Kobold den Höhlenschatten und zieh ihn der Unnatürlichkeit. Denn Feuer, so sprach er, werde von Blitzen entzündet, von Vulkanen auch und vielleicht mal von einem besonnten Wassertropfen, aber gewiss nicht von Menschen. (Deshalb das Birchermüesli.) Diesen Kobold wird er nun nicht mehr los, und wie wir ihm bestätigen können, wird das in der Folge auch einige Jahrtausende so bleiben.
Der Schatten der vagen und schwer fassbaren Natürlichkeit ist die vage und schwer fassbare Unnatürlichkeit. Wir meinen zu wissen, was sie umfasst: Gentechnologie, Atomenergie, Chicken Nuggets... Die Menschen kannten sie allezeit in wechselnder Gestalt: Die Dampfkraft war unnatürlich, manchen auch die Demokratie, die jeweilige Hutmode sowieso... Doch wir polemisieren, wo wir es vielleicht nicht sollten. Denn ist es nicht wahr, dass uns unsere Fähigkeit, uns anzupassen und uns unsere natürliche Umwelt fast nach Belieben bequem zurechtzulegen, überhaupt erst in die missliche Lage brachte, in der wir nun munter fortschreiten? Ist Fortschrittskritik nicht angebracht? Wir meinen: Doch. Wir denken aber, dass uns die Unterstellung der Unnatürlichkeit hier nicht weit führt. Sie ist ein Nährboden für Dogmatismus und Vorurteile.
Es war gut und richtig, die Gentechnologie vorerst mal einzubremsen, solange wir nicht genauer wissen, was sie mit der irdischen Ökologie und unserem Essen macht. Doch wir sollten nicht vergessen, dass es ebenfalls die Gentechnik ist, die der rasch wachsenden Zahl von Diabetikern ein Insulin zur Verfügung stellt, das die armen Rinder und Schweine von diesem Dienst erlöst. Es ist weiterhin wahrscheinlich ein Erfolg, uns von den Atomkraftwerken abzunabeln. Doch wenn nun stattdessen massig Kohlenkraftwerke hochgezogen werden... Die Welt ist kompliziert, und die Ökologie erst recht. Sich hier nach simplen Phantomen wie dem Kobold 'Unnatürlichkeit' zu orientieren, hat seine Tücken.
Fazit
Die Zielsetzung einer menschlichen Aussöhnung mit der Natur ist eine edle. Paradoxerweise dient die Rede von 'der Natur' und Natürlichkeit diesem Ziel nicht recht. Dazu bedeuten sie – wie wir uns aufzuzeigen bemühten – allzu leicht das, was wir wollen, dass sie bedeuten. Die komplizierte Welt ist voll von solchen Paradoxien, die es in einem ersten Schritt einfach mal auszuhalten gilt, bis sie bestenfalls zu einer Synthese angehoben werden können. In unserem Zusammenhang heisst das, sich der These (Fortschritt!) und der Antithese (Zurück zur Natur!) möglichst vorurteilsfrei gewahr zu bleiben, wo wir sie (noch) nicht vereinigen können – auch wenn dies bedeutet, im unbehaglichen Zustand der Unordnung auszuharren. Beide Positionen sind prominent besetzt und gut ausformuliert, und um sie nun zu einer Aussöhnung mit der Natur zusammenzuführen, werden wir weder auf der einen noch der andern noch lange sitzenbleiben können. In unserem Alltag kann ein Schritt dazu sein, weniger nach 'Natürlichkeit' zu fragen als vielmehr – beispielsweise – nach ökologischer Vertretbarkeit. Das konkretisiert nicht nur unsere Entscheidungen, sondern lindert auch die Unbehaglichkeit, und dreht all jenen eine lange Nase, die meinen, uns mit der Aufschrift natürlich hinlänglich becirct zu haben.
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