Endlich Winter – Zeit, meine Schneeschuhe auf den Rucksack zu schnallen und in die weisse Märchenwelt einzutauchen. Auf der Bahnfahrt ins Engadin freue ich mich bereits, meine Tritte in den unberührten Schnee zu setzen. Doch: Der Talboden zwischen Susch und Zernez ist braun, einzig auf der Langlaufloipe sind klägliche Schneereste zu erkennen. Inmitten der Wiesen haben sich riesige gefrorene Tümpel gebildet. Obwohl es kalt genug ist, liegt kein Schnee. Wie sieht es wohl an meinem Ziel – dem Münstertal – aus? Das Postauto nimmt eine Kurve nach der anderen und steigt höher und höher, durch den Nationalpark dem Ofenpass entgegen. Mit jedem Höhenmeter liegt etwas mehr Schnee, er bleibt aber rar; selbst auf der Passhöhe auf 2149 Metern. Jetzt offenbart sich mir das braune Münstertal: In Lü auf knapp 2000 Metern über Meer bedeckt einzig feiner Flaum die braunen Wiesen, weiter unten im Tal ist kein Schnee zu sehen. Ich fahre durch Tschierv, wo am 6. Januar der Langlaufwettbewerb Tour de Ski stattgefunden hat. Die Veranstalter haben Kunstschnee hergestellt; dafür waren die Temperaturen tief genug. Inmitten dieser kleinen weissen Arena steht das Wappentier des Kantons Graubünden: der Steinbock – aus Eis gebaut
"Für mich sind meine Beobachtungen eindeutige Zeichen des Klimawandels."
Wo soll ich bloss meine Schneeschuhe anschnallen? Gewöhnliches Wandern ist aber auch nicht ideal: Während den milden Tagen und Nächten hat es viel geregnet und die gefrorenen Böden liessen das Wasser nicht ablaufen. So bildeten sich in Wäldern und Wiesen richtige Eisschilde. Darauf zu wandern, ist kein Vergnügen. Ich hätte besser meine Schlittschuhe anstelle der Schneeschuhe eingepackt.
Im Gespräch mit Einheimischen erfahre ich, dass es solche Wetterbedingungen auch schon früher gegeben habe, in den Achtzigerjahren. Die Beobachtung zeige, dass sich die guten und die schlechten Winter etwa im Zwei-Jahres-Rhythmus abwechselten. Das für den Wintersport ideale Winterwetter vorherzusagen, wird immer schwieriger. Dieses Jahr scheine ich also Pech gehabt zu haben.
Für mich sind meine Beobachtungen eindeutige Zeichen des Klimawandels: Anfang Januar war es so warm, dass es beinahe bis 2000 Meter über Meer regnete. Die einzige Möglichkeit, um doch noch eine Schneeschuhtour zu unternehmen, wäre wieder hoch zum Pass zu fahren. Ähnlich wie Tiere und Pflanzen, die in kalten Lebensräumen vorkommen, wandere auch ich nach oben, der Kälte und dem Schnee entgegen. Irgendwann aber werden die Bergspitzen und -kämme erreicht sein, und wenn es dort keinen Schnee mehr gibt, kann ich selbst dort nicht mehr Schneeschuhlaufen. Wo werden dann die heute dort lebenden Tiere und Pflanzen sein?
Ich verbringe einen wunderschönen Tag in der Bergwelt am Ofenpass: Hier gibt es viel Sonne, aber es ist windig und relativ kalt. Trotzdem ist der Schnee selbst auf 2000 Metern sulzig und schwer. Bei jedem Einstich der Stöcke bricht die oberste gefrorene Schneeschicht ein, und sie tauchen tief in den weichen Schnee. Der Bach Il Fuorn, der sich auf der Buffalora-Ebene schlängelt, ist nicht zugefroren. Das entspricht so gar nicht den Erwartungen, denn eigentlich ist diese Ebene nach La Brévine der zweitkälteste Ort in der Schweiz. Beim Durchqueren des Bachs sinke ich in den Schneematsch ein, der sich im Bachbett gebildet hat. Beim Laufen über die unberührte Schneedecke vernehme ich viele Wumm-Geräusche, die auf Lawinengefahr hinweisen. Lawinen – trotz so wenig Schnee? Die wenigen Schichten haben sich schlecht verbunden und beim Betreten der Schneedecke fallen die Schichten in sich zusammen, wobei Luft entweicht und Risse in der Schneedecke hervorrufen. Zum Glück ist das Gelände flach, in steileren Hängen würden Lawinen ausgelöst.
Nach einer herrlichen Schneeschuhtour durch die unberührte weisse Winterlandschaft fahre ich zurück ins Münstertal; dort bin ich im gefühlten Frühling angekommen.
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