„Nachhaltigen Tourismus gibt es ebenso wenig, wie es ein nachhaltiges Auto gibt“ - Nina Sahdeva

Nina Sahdeva setzt sich auf der Plattform "fair unterwegs" für nachhaltiges Reisen ein. Nina Sahdeva setzt sich auf der Plattform "fair unterwegs" für nachhaltiges Reisen ein.

Trotz Reisefieber und Fernweh fair bleiben, geht das überhaupt? Nina Sahdeva von der Internetplattform fair unterwegs spricht mit uns über Sanften und Nachhaltigen Tourismus. 

Nina Sahdeva ist seit dem Jahr 2006 Teil von fair unterwegs - arbeitskreis tourismus & entwicklung (akte). Während ihrem Werdegang erhielt sie Einblick in verschiedene Bereiche. Sie begann ein Studium in Geschichte, Ethnologie und Englisch, machte dann aber eine Ausbildung am Journalismuszentrum MAZ. Seither hat sie bei verschiedenen NGO`s gearbeitet. Bei akte arbeitet sie in der Redaktion des Portals fairunterwegs.org und für Bildungseinsätze. Aktuell ist sie am Masterabschluss ihres Psychologiestudiums. Heute beantwortet sie unsere Fragen zu fairem Tourismus!

Umweltnetz-Schweiz: Fair Reisen - Was bedeutet das in wenigen Sätzen?

Nina Sahdeva: Fair unterwegs sein heisst ein richtiges Verhältnis finden, zwischen meinen eigenen Bedürfnissen und der dabei verursachten sozialen und ökologischen Belastung. Als Reisende bin ich mit meinem Feriengeld sozusagen eine private Investorin. Wie auch andere Investoren sollte ich mir deshalb überlegen, was mein Geld bewirkt – im guten wie im schlechten Sinne.

Was ist für dich das grösste Problem an der heutigen Form des Tourismus? Welche Herausforderungen werden oft unterschätzt oder vergessen?

Im Tourismus wirken Dynamiken, die oft zu sozialer Verschlechterung oder Umweltzerstörung führen. Eine Herausforderung, die neben dem CO2-Ausstoss oft unterschätzt wird, ist der hohe Land- und Wasserverbrauch im Tourismus. In relativ kurzer Zeit soll im Tourismus viel Geld erwirtschaftet werden. Der Druck auf die Marge ist dementsprechend hoch und es wird zunehmend schwieriger, die Arbeitsbedingungen anständig zu gestalten. Hotelbetriebe lagern beispielsweise nicht länger nur den Putzbetrieb aus, sondern auch die Rezeption, den Gartendienst, den Fahrdienst… ja praktisch jeden Dienst. Weil niemand mehr die Verantwortung trägt, geschehen die schlimmsten Formen von Ausbeutung. Hinzu kommt, dass die Investitionen im Tourismusbereich sich in hohen Beträgen bewegen und die Branche somit korruptionsanfällig ist.

Bietet der Tourismus, neben den unzähligen Gefahren, auch Chancen für Umwelt und Gesellschaft?

Die Reisenden selber haben das Privileg, ihren Horizont erweitern zu dürfen; aus dem Alltag ausbrechen und andere Lebensformen kennenlernen. Es gibt sinnvolle Ansätze, die Tourismus mit Entwicklung kombinieren, die existieren allerdings eher in der Theorie als in der Praxis. Das kann funktionieren, mit einem Tourismus in beschränktem Mass und nicht als Monokultur.

Ist diese Perspektive von Tourismus, der Wertschöpfung und Entwicklungsmöglichkeiten für eine Region birgt, nicht oft nur Fassade?

Es braucht einiges, damit es funktioniert. Erstens braucht es eine Infrastruktur für die Anreise. Die meisten Reisenden nehmen keinen Dreitagesmarsch auf sich, nur um in einem kleinen Gasthof zu landen. An diesem Ort soll es dann Ausflugsmöglichkeiten und Freizeitangebote geben. Von den Hotels werden gewisse Standards erwartet. Für schlecht entwickelte Regionen bedeutet das grosse Investitionen und Import von Waren. Ausserdem kämpft man gegen einen internationalen Markt an. Diese Dynamiken machen es gerade in abgelegenen Gebieten schwierig, Wertschöpfung zu generieren. In besser erschlossenen Gebieten ist das eher möglich.

Hast du ein bestimmtes Positivbeispiel im Kopf?

Unser Partner „Uravu Bamboo Groove“ in Kerala/Indien hat 2018 den CIPRA-Solidaridätspreis gewonnen. Dort ist auf Initiative der Gemeinde selbst ein sogenanntes „Bamboo Village“ entstanden. Aus dem lokalen Bambusanbau und –verarbeitung ist die Idee von Homestays und kleinen Hotels hervorgegangen. Die Reisenden kommen mit der Lokalbevölkerung in Kontakt und beleben die Gemeinde wirtschaftlich – ob im Tourismus, in der Bambusherstellung oder im Gemüse/Früchteanbau für den Wochenmarkt. Insgesamt ist das ein recht gutes Angebot, aber auch hier stellt sich die Frage: Wie viel Tourismus ist dem Ort und der Gemeinde zuträglich?

Die Webseite fairunterwegs präsentiert sich unter dem Motto „unterwegs wie zu Hause“: Das Reiseportal mit Faustregeln, praktischen Tipps, Infos und Inspirationen für faire Begegnungen mit Menschen aus anderen Kulturen. Hinter Idee, Konzept und Betrieb der Plattform steckt der Arbeitskreis Tourismus & Entwicklung aus Basel.

Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen euch und solchen Partnern aus?

Wir arbeiten auf Augenhöhe mit unseren Partnern. In der Regel fliesst kein Geld und wir haben auch keine Projekte im Sinne der Entwicklung etwa von Gemeindetourismus. Vielmehr versuchen wir unser Wissen weiterzugeben, das auf vierzigjähriger Erfahrung baut. Gleichzeitig wollen wir von unseren Partnern lernen, was sie unter fairem, solidarischem oder nachhaltigem Tourismus verstehen.

Siehst du die Verantwortung für ein faires Unterwegssein eher bei den Reisenden selber oder den Akteuren im Tourismussektor?

Die Verantwortung kann grundsätzlich niemand abgeben. Andererseits stellt sich die Frage: Wer hat am meisten Hebel in der Hand? Im Moment lassen die Rahmenbedingungen für Nachhaltigkeit im Tourismus zu wünschen übrig. Von daher sind Gesetzgeber und Exekutiven, aber auch Unternehmen gefragt. Dieser Prozess ist zwar in Gang, er läuft aber viel zu langsam ab. Der Druck, überhaupt in der Branche bestehen zu können, steht noch im Vordergrund. Hier trägt die Kundschaft eine Verantwortung. Umfragen ergeben zwar, dass Nachhaltigkeit für die Reisenden ein wichtiger Aspekt ist. Dies muss aber auch bei den Reiseveranstaltern zum Ausdruck gebracht werden und erfordert eine kohärentere Buchung.

Wir Schweizerinnen und Schweizer verreisen vergleichsweise häufig. Müssen wir diesen Drang in die Ferne in Zukunft abschalten oder gibt es auch andere wirkungsvolle Lösungen?

Die Idee von der grösstmöglichen Leistung zum niedrigsten Preis, das ist der falsche Ansatz. Nicht mehr buchen als nötig, diesen Grundsatz muss ich konsequent durchziehen.
Eine Fernreise beispielsweise kann dazu dienen, eine Kultur kennenzulernen. Wer sich lange mit Japan beschäftigt hat – mit der Sprache, der Geschichte, der Literatur – will dann vielleicht das Land in der Realität kennenlernen. Das wäre ein Beispiel für eine nachvollziehbare Fernreise. Aber für eine Reise, die einfach ein Abenteuer oder ein schönes Erlebnis sein soll, muss ich nicht so weit verreisen.

Umgekehrt ist die Schweiz eine beliebte Reisedestination. Entwickelt sich die Schweiz als Reiseland bereits in die richtige Richtung?

Im Schweiz Tourismus haben wir beide Entwicklungen. Einige Unternehmen, wie die Jugendherbergen, leisten hier sehr gute Arbeit. Andere hingegen wollen wachsen und die Erlebniswelt stets weiter ausbauen.

Welche Erfolge konnten Sie mit ihrer Arbeit bei Fairunterwegs bereits erzielen?

Unsere Stärke ist eine Art Vernetzung verschiedener Parteien. Ein Beispiel hierfür ist der runde Tisch „Human Rights in Tourism“, in den wir involviert sind. Das ist ein Ort, an dem Reiseveranstalter und –verbände, aber auch NGO`s und Wissenschaftlerinnen zusammensitzen. Sie überlegen gemeinsam, welche Massnahmen nötig sind, damit die Menschenrechtsverantwortung von Tourismusunternehmen besser wahrgenommen wird. Daraus hervorgegangen sind mehrere Leitfäden und Tools und ein aktiver Erfahrungsaustausch.

In den letzten Jahren sind ja immer mehr „Ökoreiseangebote“ aufgetaucht. Aber welchen Labels können wir wirklich Vertrauen schenken bzw. worauf müssen wir achten?

Als Orientierungshilfe haben wir auf unserem Portal einen Labelführer, den wir gemeinsam mit Partnern in Österreich und Deutschland erarbeitet haben. Bei einem Label will ich wissen, wer hinter der Zertifizierung steckt, ob die Kriterien transparent ausgewiesen sind und von extern überprüft wurden und wie umfassend es die soziale, wirtschaftliche und Umwelt-Nachhaltigkeit abdeckt. Der Global Sustainable Tourism Council (GSTC) ist eine Art Überorganisation dieser Labels. Das ist eine multilaterale Organisation, die grundlegende Nachhaltigkeitskriterien zusammenstellt und die vertrauenswürdigsten Labels akkreditiert.

Steckt hinter nachhaltigen Tourismusformen nicht in den meisten Fällen reines Greenwashing? Der Stadtwanderer Benedikt Loderer behauptet sogar: „Nachhaltigen Tourismus gibt es nicht!“

Wir sind grundsätzlich der gleichen Meinung: Nachhaltigen Tourismus gibt es ebenso wenig, wie es ein nachhaltiges Auto gibt. Tourismus kann aber im besten Fall einer nachhaltigen Entwicklung zuträglich sein. Ich würde nicht behaupten, dass jede Initiative für Nachhaltigkeit im Tourismus per se Greenwashing ist. Aber auch wir sind skeptisch! Alle grossen Tourismusförderer sprechen von nachhaltigem Tourismus. Statt von langfristigen Prozessen auszugehen, heben sie aber einzelne beschönigende Momentaufnahmen hervor. Die Debatte muss viel nüchterner betrachtet werden: Wo liegen Gefahren und Chancen im Tourismus?

Ist Nachhaltigkeit zu einem Faktor geworden, der die Kundenentscheidungen beeinflusst?

Zu dieser Frage gibt es unterschiedliche Aussagen. Kürzlich wurde eine Studie dazu durchgeführt: Ein Angebot wurde einmal als nachhaltiges Produkt ausgeschrieben und ein zweites Mal nicht speziell gekennzeichnet. Das nachhaltige Angebot wurde weniger häufig gebucht und ausserdem waren die Kunden damit weniger zufrieden. Hinzu kommt, dass heute auch Angebote als nachhaltig angepriesen werden, die nicht viel mit Umweltbewusstsein am Hut haben. Als Kundin darf ich nicht bei jedem Schlagwort in die Falle tappen.

Wie stehen sie zu Tourismusangeboten wie Voluntourismus oder Slumtourismus?

Beim Voluntourismus gibt es Angebote, die vertretbar sind. Wenn ich eine Auszeit nehme oder ein Zwischenjahr mache und in diesem Rahmen ein solches Angebot wahrnehme, kann das eine bereichernde Erfahrung sein. Nur für eine Freiwilligenarbeit kurz in den Amazonas zu reisen ist eher fragwürdig. Wichtig ist auch, die eigene Haltung kritisch zu reflektieren. Der „White Saviour Complex“, also das Gefühl„armen Leuten“, helfen zu müssen, die es sonst nichts schaffen würden, ist herabwürdigend. Oft geht vergessen, dass unser Reichtum auf der Sklaverei und dem Kolonialismus aufbaut.
Auch beim Slumtourismus gibt es beide Seiten. Von Angeboten, die einen aufklärerischen Anspruch haben und von den SlumbewohnerInnen durchgeführt werden, können beide Parteien profitieren. In der Schweiz ist das vergleichbar mit den Surprise-Stadtrundgängen: Eine Selbstdarstellung von Leuten, die von Obdachlosigkeit betroffen sind. Der Gegensatz wäre ein Veranstalter, der ohne Rücksicht auf die SlumbewohnerInnen den Voyeurismus von Reisenden befriedigt, um Geld zu verdienen. Slumtourismus ist demnach nicht einfach schlecht oder gut. Wer ein solches Angebot bucht, sollte sich fragen, wer der Anbieter ist und wer davon profitiert. Diese Tourismusformen können nicht generell verurteilt oder anerkannt werden.

Welches Schlusswort möchtest du uns für die nächste Reise mit auf den Weg geben?

Wir haben eine Planungshilfe aufgebaut, die das faire Unterwegssein auf neun Schritte hinunterbricht. Wir empfehlen, dass man zur Orientierung diese Tipps durchgeht und versucht, sie umzusetzen. Man sollte sich aber bewusst sein: Die faire, nachhaltige Reise gibt es nicht.

Vielen Dank für das Interview Nina Sahdeva!


weitere Informationen:
Fair unterwegs – auf Reisen wie zu Hause
Roundtable – Human Rights in Tourism
Surprise NGO

 

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