Mit den Begriffen 'Natur' und 'natürlich' verbinden wir allerlei angenehme Dinge. Gesundheit, Schadstoffarmut, Harmonie, ein ökologisch reines Gewissen, Lebendigkeit. Die Natur ist, so assoziieren wir, sanft, freundlich und irgendwie rund. Doch diese Assoziationen sind, in dieser kulturellen Eindeutigkeit, ein neueres Phänomen. Im 12. Jahrhundert hätte wohl niemand von der natūre in diesem Sinne gedacht; dafür lagen Wetter, Raubtiere und Ernteeinbussen schlicht zu nah. Die Zuschreibung solcher Eigenschaften an einen von der natürlichen Umwelt ausdrücklich abgehobenen Gott lag da näher. Die Umdeutung der Natur geschah dann wohl schleichend im Gefolge Rousseaus, der Aufklärung und, interessanterweise, auch deren deutschem Gegenpol, der Romantik. Heute, so scheint es, ist Natürlichkeit ein unentbehrliches Public-Relations-Argument. Dazu eignet sie sich bestens, denn in Gehalt und belegbarer 'Wahrheit' ist sie grösstenteils eine Leerformel.
Ein Verlust an Kontrast
Während der inflationäre Einsatz ähnlich besetzter Begriffe zu Werbezwecken – wie Nachhaltigkeit oder Bio – schon verschiedentlich beklagt wird, geschieht das der Natürlichkeit selten. Dabei ist beispielsweise der Nachhaltigkeit zu Gute zu halten, dass sich ihre Definition – die Bewirtschaftung einer Ressource, die diese auf Dauer verfügbar hält – noch gegen Entgrenzungen sträubt, und auch das Siegel Bio ist in aller Regel an nachprüfbare Standards gebunden. 'Natürlich' hingegen ist nahezu alles – und es wird beständig mehr. Denn während sich die Natur früher noch von Kontrastbegriffen wie der Kultur, dem Menschen oder dem Übernatürlichen absetzen konnte, verliert das Übernatürliche an Deutungskraft, und der Mensch wird, mitsamt seinen kulturellen Bemühungen, zunehmend als ein Bestandteil ebendieser Natur begriffen. Nicht, dass wir dies grundsätzlich beklagen sollten. Es führt aber zu einer sich verstärkenden Unschärfe und Mehrdeutigkeit in der Verwendung des Begriffs. Ein Beispiel.
Homosexualität – natürlich oder was?
In der Diskussion um die moralische und gesellschaftliche Zulässigkeit von gleichgeschlechtlicher, sexueller bzw. partnerschaftlicher Liebe monieren beide Seiten die Natur für sich. Für die einen ist Homosexualität unnatürlich, da sie nicht zu Nachkommenschaft führt. Für die anderen ist sie natürlich, da sie auch in der Tierwelt vorkommt. Also was nun: Ist Homosexualität natürlich, also freundlich, lebendig, irgendwie rund et cetera, oder eher nicht? Mit biologistischem Auge eingeschätzt: Jein. Will heissen: Kommt drauf an. Wie wir Natur definieren, nämlich: Wenn wir Natur als ein evolutionäres Hauen und Stechen um die erfolgreichste Fortpflanzungsrate und damit der Arterhaltung verstehen, ist Homosexualität aus dem Rennen. Wenn wir Natur als ein kunterbuntes Allerlei von Lebens- und sonstigen Phänomenen begreifen, bleibt sie fröhlich mittendrin. Beide Deutungsmuster haben ihre Berechtigung, in einem gesetzten Kontext, und beide zielen in diesem Fall am gesetzten Kontext vorbei. Denn dieser wäre nicht die Natur, sondern die natürliche Tierart Mensch, und diese wiederum hat ihre Sexualität um eine wesentliche Befugnis erweitert. Der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Diese Sozialität hat uns den evolutionären Erfolg der Arterhaltung beschert, nicht zuletzt dadurch, dass der Sex nicht nur der Fortpflanzung, sondern auch der sozialen Stabilisierung unserer Gemeinschaften dient. Er ist, in dieser Eigenschaft, eine Spielart der Kommunikation und ein Werkzeug der erweiterten, interfamiliären Gruppenbindung, wo diese nicht über Mutter- bzw. Vaterliebe gewährleistet ist. Ein diffiziles und problematisches Werkzeug, wie sich immer wieder mal zeigt, aber ein funktionierendes und allgemein als erfreulich empfundenes. Ob gleichgeschlechtlicher Sex diese Aufgabe erfüllt? Wir haben hierzu gerade keine Studien zur Hand, aber wir vermuten, dass dem so ist. Doch dahin wollten wir eigentlich gar nicht. Wir wollten nur vor kontroversem Hintergrund aufzeigen, dass das Wörtchen 'natürlich', so intim und deutlich wir es auch zu begreifen scheinen, problemlos auf verschiedenen Hochzeiten tanzen kann, während es auf so mancher Tanzfläche eigentlich gar nichts verloren hat.
Ökologisch, natürlich...
Manchmal ist schon die Lokalisierung der Tanzfläche eine vertrackte Aufgabe. Wenn uns beispielsweise "natürliches schlafen" versprochen wird, woran sollen wir das 'natürlich' dann befestigen? An einer vorzivilisatorischen Frühzeit, am Menschen im 'Naturzustand'? Dann würden wir uns wahrscheinlich zusammengedrängt und voll bekleidet in eine windgeschützte Ecke kauern. Oder an einer anatomisch-medizinischen Idealkonstellation der Schlafunterlage? Da die Natur uns mit solchen Lagerstätten nicht aus eigenem Antrieb beschenkt hat, scheint auch diesbezüglich die Bezugnahme auf sie gewagt. Vom "natürlichen heilen" wollen wir gar nicht erst anfangen: Das werden wir dann bei Gelegenheit in einem zweiten Teil tun.
Es mag seltsam erscheinen, dass ausgerechnet wir, auf einer Umwelt-Website, ein Gewese um die Entdeckung der Naturverbundenheit durch die Werbewirtschaft machen. Dass der Wunsch nach umweltbewusstem Konsum einen Erfolg der Ökologiebewegung widerspiegelt: Unbestritten. Es gibt Firmen und Hersteller, die mit der Ambition zur Natürlichkeit wertvolle ökologische Ansprüche an sich selbst verbinden. Doch die Assoziationsmacht des Wortes 'natürlich' ist, ob seiner kaum belegkräftigen Unschärfe, eine Einladung auch an all die anderen Unternehmen, sich einen einfallslosen Zugang zum Wohlwollen gerade von uns Ökos und Umweltbewussten zu verschaffen. Da Ernüchterung und Enttäuschung die Kraft in sich tragen, wohlmeinende Erwägungen und Handlungsvorgaben in Trotzreaktionen umschlagen zu lassen, sehen wir das mit einer gewissen Besorgnis. Es führt wohl kein Weg daran vorbei: Wenn wir von Natürlichkeit reden, müssen wir uns auch damit auseinandersetzen, welche 'Natur' wir meinen. Die Hersteller von Natürlichkeit dahingehend zu hinterfragen, ist schon ein erstaunlich erhellender Einstieg dazu.
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