Wertschätzung in der Wundertüte: Ein Interview mit Bea Burri

In unserer Konsumgesellschaft geht die Wertschätzung für viele unserer Besitztümer verloren. Im Gespräch mit Beatrice Burri, Inhaberin der Brocki «Wundertüte» in Luzern erfahren wir über den Wert von Antiquitäten und der Handwerkskunst.

 

Umweltnetz-Schweiz: Könnten Sie uns etwas über sich erzählen?

Beatrice Burri: Ich wurde 1947 in Kriens geboren und bin mit 8 Geschwistern aufgewachsen. Ich bin in Kriens in die Sekundarschule, bin dann in den Verkauf und habe mich dort weiterentwickelt. Da habe ich das richtige erwischt und ich denke, auch mit einer Lehre wäre ich keine bessere Verkäuferin geworden, als ich es jetzt bin.

 

Wie sind Sie in dieses Berufsfeld gerutscht? 

Ich habe als Kind immer von einem schlagenden Hammer geträumt. Damals wusste ich gar nicht, was ich mit diesem Traum anfangen soll. Mit 19 besuchte ich dann Rom und bin dort mit meiner Schwester durch die Strassen spaziert. Plötzlich sah ich in einem Schaufenster einen schlagenden Hammer. Ich sagte zu meiner Schwester: Hier muss ich rein! Das ist der Traum, den ich schon seit Jahren habe — ich muss wissen, was es ist! Es stellte sich heraus, dass es ein Auktionshammer war. 

Dort in Rom habe ich das erste Mal etwas ersteigert — ein Schachbrett aus Alabaster. Damals kostete es mich ein halbes Vermögen. Erst vor 5 Jahren habe ich es dann weggegeben, ich hing so daran. Zurück in Luzern habe ich mich nach Auktionen erkundigt, und tatsächlich gab es eine: In der Bruchstrasse. Seither war ich Non-Stop an Auktionen, bis ich die Ware nicht mehr nur einfach bei mir horten konnte. Daraufhin bin ich jeden Morgen früh an den Flohmarkt gegangen und habe meine Ware verkauft. Dann konnten wir coronabedingt nicht mehr auf den Flohmarkt, und ganz zufällig sah ich dieses  leerstehende Ladenlokal.

 

Das war die Geburtsstunde der Wundertüte.

Ja, und ich habe mir viel Mühe gegeben, die Brocki schön einzurichten. Hunderte von Stunden hat es gedauert, alles zu putzen und aufzustellen. Im Januar 2021 habe ich das Lokal gemietet und kurz darauf sind wir in den Lockdown reingerutscht. Leider sind wegen Corona viele Veranstaltungen abgesagt worden, die mir hier Kundschaft gebracht hätten. Aber ich konnte mir den langjährigen Traum erfüllen, mein eigenes Geschäft zu führen. Ich brauche keinen Lohn, ich möchte einfach anderen Leuten etwas Wertvolles weitergeben. Mir ist es wichtig, dass die Sachen, die ich hier verkaufe, an einen Ort kommen, wo sich die Leute darüber freuen. Wenn ich jetzt Ende April die Wundertüte wegen dem Umbau dieses Lokals schliessen muss, werde ich meine Sachen ins Ausland spenden, damit diejenigen, die es brauchen können, Freude daran finden. So kann ich auch meine Kinder entlasten, die sich dann in Zukunft nicht um all diese Dinge kümmern müssen *lacht*.

 

Es brauchte sicherlich sehr viel Mut und Durchhaltevermögen, während der Pandemie ein Geschäft zu öffnen.

Ja auf jeden Fall. Meine Tochter hat mich stark unterstützt dabei, Unterstützungsgelder anzufragen. Da mein Geschäft neu ist, konnte ich keine Bilanz meines vorherigen Umsatzes vorweisen, deshalb habe ich keine Unterstützung erhalten. 

Aber mich darüber zu beklagen, bringt ja nichts. Hauptsächlich wollte ich meinen Enkelkindern zeigen, dass man auch in einer schwierigen Zeit etwas anfangen kann — dass sie den Mut nicht verlieren müssen. Es hat sich gelohnt: Ich habe viele nette Leute kennengelernt, und ich konnte mir hier eine Tagesstruktur aufbauen, anstatt zu Hause zu bleiben.

 

Wie läuft das Geschäft mit Antiquitäten heutzutage?

Früher konnte man Antiquitäten kaum bezahlen. Heutzutage haben sie leider an Wert verloren — niemand will sie mehr. Das sieht man daran, dass viele Antiquitätenhändler und Auktionäre zumachen. Gleichzeitig geht das Wissen verloren — kaum jemand kann mehr den Wert dieser Stücke einschätzen. In den letzten fünf Jahren habe ich vier Händler verloren, die mir Dinge abgekauft haben und die sich auskennen mit Gold, alten Uhren usw. Auch heute wären solche Leute gefragt, insbesondere bei Räumungen. Geld verdienen könnte man damit noch immer. Ich habe einmal einen Säbel für rund 800 CHF gekauft und dieser wurde dann für 5’000 CHF ersteigert. Hätte ich doch nur einmal einen Picasso erwischt. War leider nichts. *lacht*

 

„Antiquitäten sehen auch in modernen Wohnungen schön aus.“

 

Sie würden also sagen, die Wertschätzung für Antiquitäten ist stark zurückgegangen?

Bei jüngeren Generationen beobachte ich das, ja. Ich habe trotzdem eine Handvoll jüngere Kundschaft und sie haben immer viel Freude an den Sachen, die sie hier finden. Ich finde, Antiquitäten sehen auch in modernen Wohnungen schön aus. Sie geben eine Wärme ab; die Formen, die früher gefertigt wurden, sind einfach lieblich und warm. Eine Vase oder ein kleines Kissen: Sie allein bringen schon etwas Charme in eine Wohnung hinein. Aber das ist mein Geschmack.

 

Apropos Geschmack: Wenn man die Wundertüte betritt, sieht alles so einladend aus...

Ja, darauf lege ich grossen Wert. Ich kann keine Unordnung aushalten. Schon meine Kinder und Nachbarskinder, die ich hütete, mussten mithelfen, Dinge aufzuräumen und zu putzen. Sie kommen noch heute zu mir und sagen: „Ordentlich zu putzen, das habe ich nur bei dir gelernt.“ Alle Dinge hier habe ich von Hand gereinigt. Jedes Glas, jede Vase habe ich hier hinten in einem kleinen Waschzuber mit Seife gereinigt — stundenlang. Ich möchte einfach, dass alles schön aussieht.

 

Können Sie uns schildern, woher die vielen schönen Antiquitäten kommen und wie sie schliesslich hier in der Wundertüte landeten?

Gewisse Dinge habe ich schon seit 30, 40 Jahren bei mir. Das meiste, was Sie hier sehen, habe ich über die Jahrzehnte auf Auktionen zusammengekauft.  Einzelne Sachen sind aber auch brandneu aus Geschäften; Sachen, die dort nicht verkauft wurden. Teilweise habe ich ganze Regale und Schachteln voll mit Dingen ersteigert. In einer Bananenschachtel können 30 oder mehr Sachen stecken — deshalb sollte man die nicht auspacken, bevor man Platz macht *lacht*.

Viele Dinge sind Jahrzehnte alt. Ich habe hier zum Beispiel Geschirr aus den 70er-Jahren — und es ist kein einziges Ecklein kaputt.

 

„Man spricht zwar von Nachhaltigkeit, aber wirklich leben tun sie nur wenige.“

 

Was hat Sie motiviert, letztes Jahr dieses Geschäft zu eröffnen?

Vor allem, weil ich coronabedingt nicht mehr auf den Flohmarkt gehen konnte. Ich mache es auch — wie schon gesagt — für meine Enkelkinder, weil ich ihnen zeigen wollte, dass man auch in schwierigen Zeiten nicht aufgeben muss.

Zudem finde ich es verrückt, wenn ich sehe, wie viele Pakete die Post jeden Tag transportiert. Man spricht zwar von Nachhaltigkeit, aber wirklich leben tun sie nur wenige. Ich lebe seit 40 Jahren nachhaltig — wir haben schon immer Sorge zur Umwelt getragen. Wir haben immer Wert darauf gelegt, lokale Geschäfte zu unterstützen und gut überlegt, wo wir einkaufen gingen. Wenn ich z.B. einen neuen Fernseher brauchte, habe ich immer zuerst überlegt, ob ich jemanden mit einem Elektrogeschäft kenne. Die Beziehungen zu den Menschen im Gebiet wurden dadurch gestärkt. Man kannte die Ladenbesitzer und -besitzerinnen und baute eine Beziehung zu ihnen auf. Manchmal bekam man dadurch sogar einen kleinen Rabatt. Heutzutage wird alles online bestellt. Dadurch gehen wertvolle Dinge verloren.

 

Was für wertvolle Dinge meinen Sie genau?

Mein Enkel beispielsweise wollte eine Lehre in einer Druckerei beginnen — aber das gibt es heute fast nicht mehr. Ich erhoffe mir, dass die jüngeren Generationen nach wie vor schöne Berufe lernen können, z.B. in einer Apotheke, in einer Papeterie. Spezialisierte Geschäfte und Berufe gehen immer mehr verloren, und damit auch das ganze Wissen. Bei einem Grosshändler kann man keine Antworten auf spezifische Fachfragen erwarten.

Das Wissen von guten Handwerkern ist Gold wert. Dieses Wissen bekam man von einem Lehrmeister vermittelt, und es zu erwerben, erforderte Disziplin. Dieses Durchhaltevermögen kommt einem auch immer wieder in anderen Lebenssituationen zugute. Krisen macht man im Leben ja immer wieder durch.

Wenn dann junge Leute keine schönen Berufe mehr lernen können, sondern nur noch Regale einräumen und an der Kasse sitzen: Dann begreife ich, weshalb sie keine Lehre anfangen wollen. Andererseits sage ich auch meinen Enkelkindern: Sie werden immer — auch auf Umwegen — an ihr Ziel kommen. Besonders Sprachen finde ich wichtig. Einfach viele Sprachen lernen, das gibt immer einen entscheidenden Vorteil.

 

„Das Wissen von guten Handwerkern ist Gold wert.“

 

Tatsächlich sind dies einige der gesellschaftlichen Herausforderungen hier in der Schweiz… Welchen Herausforderungen begegnen Ihnen in der Wundertüte?

Es gibt immer wieder schwierige Begegnungen mit Kunden. Wenn sie beispielsweise erwarten, die Ware hier fast gratis mitnehmen zu können. Oder sich bei wenigen Franken ausgeraubt fühlen. Ich möchte aber das Vertrauen in Menschen nicht verlieren. Deshalb lasse ich die Ware, die ich vor dem Laden ausstelle, auch stehen, wenn ich in die Mittagspause gehe. Abhandengekommen ist mir nie etwas.

 

Nun umgekehrt: Was würden Sie sagen, waren die schönsten Kundenbegegnungen, die sie hier erlebten?

Ich habe ganz schöne Begegnungen erlebt; wirklich wunderbar! An gewissen Tagen habe ich nur ganz friedliche Kunden, die Freude an den Sachen haben. Das motiviert mich natürlich sehr.

Mir ist es auch vollkommen recht, wenn Besucherinnen und Besucher einfach nur vorbeikommen und sich umschauen. Sie müssen nichts kaufen — das sage ich stets. Ich freue mich schon darüber, wenn Leute sich hier die vielen schönen Sachen anschauen. Ich lege immer wieder neue Dinge hin; vielleicht ist einmal etwas dabei, das ihnen gefällt oder das sie brauchen können.

 

Wenn Sie am Morgen die Wundertüte öffnen, worauf freuen Sie sich am meisten?

Ich freue mich jeden Tag hierher zu kommen. Diese Sachen hier — da ist Geschichte drin. Was würden die Sachen erzählen, wenn sie könnten — gewisse Dinge haben vielleicht auch einen Krieg überlebt. Oder sie kommen aus dem Ausland. Da fragt man sich, wie ihre Reise sie in die Schweiz geführt hat. Bei gewissen Sachen kann ich das noch nachlesen. Diesen Holzbehälter zum Beispiel erhielt ich von einer Frau, die oft gereist ist. Ich wusste lange nicht, wofür man den braucht. Ich habe aber herausgefunden, dass man ihn in China benutzte, um Reis zu waschen.

 

Sehr eindrücklich, sowas habe ich selbst noch nie gesehen! Gibt es denn auch etwas, was die Wundertüte nicht bietet?

Bilder — davon habe ich auch viele, aber ich habe sie im Lager gelassen. Ich möchte irgendwann einmal einen Ausstellungsraum nur mit Bildern. Ob ich davon auch noch ein paar verkaufen könnte… Irgendeines hat vielleicht sogar einen hohen Wert *lacht*. Auf dem Flohmarkt kann ich sie nicht ausstellen, weil sie Wind und Wetter ausgesetzt sind und manchmal Leute auf die Rahmen draufstehen.

 

Die letzte Frage: Worauf sind Sie am meisten stolz?

Meine Tochter sagt mir fast jeden Tag, wie stolz sie auf mich ist: Darauf, was ich in meinem Alter noch erreicht habe. Zu 90% habe ich alles alleine aufgebaut. Meine Schwester hilft mir ab und zu hier aus. Ich habe sehr viele nette Kunden, die auch mehrere Male wieder zurückgekommen sind. Manchmal kaufen sie etwas, manchmal auch nicht. In einer Brocki; da muss man einfach mehrere Male vorbeikommen und sich umsehen. Ich möchte niemandem das Gefühl geben, dass sie etwas kaufen müssen. Ich freue mich, wenn Leute reinkommen und mich grüssen, und auch beim Rausgehen wieder. Von diesem netten Umgang miteinander erhoffe ich mir, dass er heute auch wieder stärker praktiziert wird.

 

Herzlichen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.

 

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