„Die Wildnis soll nicht nur als etwas Romantisches und Fernes in die Berge ausgelagert werden.“ - Sebastian Moos

Sebastian Moos setzt sich für die Wildnis der Schweiz ein. Sebastian Moos setzt sich für die Wildnis der Schweiz ein.

Die Wildnis, also die unberührte Natur, ist ein wichtiger Teil unserer Erde. Auch für uns Menschen ist sie unverzichtbar. Leider gehen wilde, der Natur überlassene Gebiete fortlaufend verloren. Bei uns in der Schweiz können zwar noch 17 Prozent der Landfläche als richtig wild bezeichnet werden, doch das ist vor allem den topographischen Gegebenheiten zu verdanken. Die Organisation Mountain Wilderness Schweiz setzt sich für den Schutz unserer Wildnis ein. Ein Gespräch mit dem Projektleiter für Wildnis bei Mountain Wilderness Schweiz: Sebastian Moos

Mountain Wilderness ist die Alpenschutzorganisation der Schweiz und setzt sich dafür ein, dass es noch oder auch wieder mehr Gebiete gibt, die wirklich wild sind. Gebiete, die nicht bebaut sind, wo sich die Natur frei entwickeln kann. Der Mensch greift nicht ein, kann aber – respektvoll und möglichst eigenverantwortlich­ – teilhaben an dieser Wildnis. Bekannt geworden ist Mountain Wilderness unter anderem für ihren Einsatz gegen das Heliskiing. Der Verein macht dies auf juristischem Weg, mit der Teilnahme an Vernehmlassungen oder mit Demonstrationen. Daneben engagiert sich Mountain Wilderness Schweiz auch für einen umweltverträglichen Bergsport; z.B. am 27. November mit einem Alpin-Flohmi in Bern

umweltnetz-schweiz: Der Duden definiert den Begriff der Wildnis als unwegsames, nicht bebautes oder besiedeltes Gebiet. Ist diese Definition für dich stimmig?

Sebastian Moos: Ja, ich finde die Definition recht stimmig. Für mich fehlt etwas das Element der freien Naturentwicklung: Für mich gehört das auch zur Wildnis, dass sie mehr oder weniger frei von Nutzung ist und die Natur sich entfalten kann.

Wie würde eine Schweiz oder gar eine Welt ohne Wildnis aussehen?

Das ist eine gute Frage! Das wäre recht traurig. Ich glaube, es wäre unglaublich steril. Alles wäre total verbaut und jede Ecke wäre genutzt und kontrolliert. Das Unvorhergesehene und Dynamische hätte fast keinen Platz mehr. Das wäre eine rechte Dystopie, finde ich. Die Vorstellung ist krass, weil diese Entwicklung recht unrealistisch ist.

Ist die Schweiz aus deiner Sicht auf dem richtigen Weg beim Erhalt der unberührten Natur? Wie stehen wir im internationalen Vergleich da?

Vom Potenzial her stehen wir extrem gut da – im mitteleuropäischen Vergleich. Dank der Alpen haben wir etwa 17% Fläche, die man als wilde Gebiete bezeichnen kann. Das sind Gebiete, die relativ naturnah, abgelegen, wenig menschlich überprägt sind und in einem diversen Landschaftsrelief liegen. In den Schweizer Alpen gibt es noch relativ viele solche Gebiete. Dafür hinken wir vom Gedanken her hinterher – gerade im Gegensatz zu Deutschland und Österreich. Wir haben nur einen bestehenden Nationalpark. Bisher ist es in der Schweiz nicht gelungen, Nationalpärke neuer Kategorie zu gründen. Auch ansonsten haben wir nur sehr wenige Schutzgebiete für Wildnis. In dieser Hinsicht haben wir noch viele Aufgaben vor uns. Naturschutz ist bei uns immer noch stark verknüpft mit Biotop- und Artenschutz. Es ist zwar wichtig, dass man versucht, gewisse Biotope zu erhalten und gewisse Arten zu fördern. Aber es ist eine sehr anthropozentrische Art von Naturschutz.

Stehst du in Kontakt mit Leuten, die sich in anderen Ländern für die Wildnis engagieren?

Ja, wir haben einen guten Austausch, vor allem mit dem WWF in Österreich und der zoologischen Gesellschaft Frankfurt in Deutschland. Diese Länder stehen uns auch kulturell sehr nahe. Das ist recht spannend, bei Ländern wie Italien und Frankreich ist nur schon die Übersetzung des Begriffes „Wildnis“ problematisch. Im französischen oder im italienischen Sprachraum gibt es dieses Wort in unserem Gebrauch eigentlich nicht. Etwas wichtiges, das wir in den letzten Jahren aufgebaut haben und weiterhin machen wollen, ist die Vernetzung von Organisationen zum Thema in der Schweiz. Wir haben gemerkt, dass es viele Menschen und Organisationen gibt, die sich für das Thema interessieren. Es fehlt aber jemand, der diese Stimmen bündelt.

Und die Definition des Begriffes „Wildnis“ ist ja nicht einmal im Deutschen ganz eindeutig.

Schlussendlich lässt sich Wildnis sehr breit begreifen und das macht auch ihre Faszination aus. Wildnis kann einerseits ein juristischer Begriff sein, bezogen auf ein Schutzgebiet. Grundsätzlich ist es aber ein sozialwissenschaftlicher Begriff. Wildnis gibt es ja erst in der Abgrenzung zum Zivilisierten, zur Kultur. Dadurch ist es auch ein Begriff, den jeder Mensch etwas anders definieren kann. Das macht es für mich so spannend. Aber trotzdem gibt es ein Grundgefühl, was Wildnis sein könnte.

Können eure Ziele überhaupt mit den Bedürfnissen der Bevölkerung vereint werden? Kann Wildnis nicht auch unsere Sicherheit gefährden?

Wir haben diesen Sommer unser Büro für drei Wochen ins Münstertal im Bündnerland verlegt. Dort haben wir eindrücklich gemerkt, wie die Menschen jeden Tag mit der Wildnis zu tun haben: Mit dem Wolf, Lawinen oder Unwettern. Der Umgang mit Natur und Wildnis ist seit Jahrhunderten ein essentieller Bestandteil des Lebens der Münstertalerinnen und Münstertaler. Wildnis muss im Einklang mit dem Menschen passieren. Wir würden keine Lawinenverbauungen abreissen, wenn dadurch Menschen gefährdet würden. Wir haben aber das Gefühl, dass es Platz für Wildnis hat. Es gibt immer mehr Gebiete in den Alpen, aus denen sich der Mensch von selbst zurückzieht. Gerade dort sehen wir grosses Potenzial: In diesen Gebieten darf man wieder vermehrt wagen, die Wildnis und die Dynamik zuzulassen. Mehr Wildnis bedeutet aber auch, dass wir unsere Bedürfnisse etwas zurückschrauben. Das ist nur möglich, wenn wir unsere Lebensverhältnisse wieder etwas „normalisieren“ – sag ich jetzt mal.

Hast du in den Wochen während eures Pop-Up-Büros im Münstertal, dank der Nähe zur Wildnis, eine Veränderung der Lebensqualität bemerkt?

Ja sicher, im Alltag sind das subtile Dinge wie frische Luft, sauberes Wasser, die auch mit der umgebenden Wildnis zusammenhängen. Andererseits wirkt sich die Landschaft an sich sehr positiv aus. In der Schweiz sind die Wildnislandschaften fast das grösste Kapital, das wir haben. Das Matterhorn zum Beispiel ist unter anderem so attraktiv, weil es eben nicht verbaut ist. Spannend ist, dass die Tourismusindustrie oft mit wilden Gebieten wirbt.

Genau diese touristischen Angebote schneiden in die naturbelassenen Gebiete ein und nehmen der Wildnis den Platz weg.

Die Tourismusinfrastruktur ist sicher einer der Treiber, der in den letzten Jahrzehnten viele solche Gebiete kaputt gemacht hat. Dafür gibt es viele Beispiele, meistens logischerweise in sehr schönen Landschaften, wo die Infrastruktur einen grossen Teil des Reizes zerstört hat. Ich denke, man könnte bereits viel verändern, indem man auf die unglaublich intensiven Sachen wie das Heliskiing verzichten würde. Auch auf der Piste Ski zu fahren liegt drin, aber halt kanalisiert und standortgebunden. Wenn man irgendwo Ski fährt, weil es dort Schnee hat, macht das Sinn. Nicht aber, wenn man auf künstliche Beschneiung angewiesen ist oder Rodelbahnen in der Höhe von 3000 Metern baut, die auch in Stadtnähe liegen könnten. Ein schöner Spruch von uns lautet: Die Alpen brauchen keinen Geschmacksverstärker! Wir setzen aber extrem häufig diese Geschmacksverstärker ein, mit Hängebrücken, Aussichtsplattformen usw. Der Mensch soll sehr wohl in die Wildnis und in die Berge gehen können. Es gibt einen ganzen Strauss an sehr nachhaltigen, langsamen touristischen Aktivitäten.

In einem Artikel zum revidierten Jagdgesetz ist zu lesen, dass es einen Konflikt zwischen der Berg- und Stadtbevölkerung in puncto Wildnis gibt. Aus der städtischen Perspektive werden die Alpen gerne als Paradies der Wildnis angesehen. Das Berggebiet sei aber nicht das Kenia für Zürcher, so der Bünder CVP-Vertreter Stefan Engler. Wie stehst du dazu?

Das ist eine sehr komplexe Frage. Im Grundsatz würde ich sagen: Man muss den Menschen, die dort leben, mit Respekt begegnen und ihre Anliegen unbedingt ernst nehmen. Das war uns ein wichtiges Anliegen mit dem dreiwöchigen Pop-Up-Büro im Münstertal. Weil man aus einer anderen Lebenswelt kommt, hat man zum Teil verkehrte Idealvorstellungen. Andererseits darf aber nicht vergessen werden, dass sehr viel Geld aus den städtischen Gebieten in diese Berggebiete fliesst. Ich glaube, es ist jedem Bergbewohner, jeder Bergbewohnerin bewusst, dass sie existenziell vom Geld aus dem Unterland abhängen. Die Alpen und die Wildnis sind ein Allgemeingut, das nicht einfach von ein paar Leuten gepachtet werden kann. Alle haben ein Mitspracherecht.

Ist es richtig, dass ein Anliegen von dir darin besteht, dass man Wildnis auch in der Stadt wieder erlebt und zulässt?

Genau, das ist mir persönlich sehr wichtig. Es gibt Tendenzen zu einer Romantisierung der Wildnis. Die Vorstellung der Wildnis ist eine Gegenbewegung zum extrem durchgetakteten, digitalisierten, technisierten Alltag. Hier kann ich dem Statement von Engler beipflichten: Die Wildnis soll nicht nur als etwas Romantisches und Fernes in die Berge ausgelagert werden. Man sollte versuchen, auch in der eigenen näheren Umgebung – das ist bei vielen heute die Stadt – in kleinen Ecken Naturdynamiken zuzulassen. Damit man auch entdeckt, was hier lebt und was für ein Potenzial in der Natur der Stadt steckt.

Was antwortest du den Stimmen, die den Schutz der Biodiversität hauptsächlich in den extensiv genutzten Kulturräumen suchen?

Die kleinbäuerliche, extensive Landwirtschaft und ihre traditionelle Kulturlandschaft sind sehr wichtig für die Biodiversität. Gleichzeitig werden aus meiner Sicht die extensiven Flächen häufig glorifiziert. Das ist ein Bild von vor hundert Jahren. Nicht nur durch die Aufgabe der Nutzung sondern auch durch die Intensivierung der Landwirtschaft sind extrem viele Extensiv-Flächen verlorengegangen. Zudem waren die Alpen schon immer in verschiedenem Ausmass besiedelt. Es fehlt uns auch oft einfach das Wissen: Wie würde sich die Biodiversität in wilden Gebieten entwickeln? Wenn man nur zehn oder zwanzig Jahre betrachtet, kann es zu einem Verlust an Biodiversität kommen – kurzfristig. Aber langfristig, wenn man wirklich in grösseren Räumen der Dynamik der Natur freien Lauf lässt, gibt es wieder Offenflächen; wegen einem Waldbrand oder einem Steinschlag, die ein Stück Wald wegräumen. Wenn man diesen Prozessen wieder mehr Raum zugesteht, bin ich überzeugt, dass extrem artenreiche, mosaikhafte Landschaften entstehen. Und: In der Wildnis wird alles geschützt, egal ob wir es kennen oder für wichtig befinden.

An welchen Projekten arbeitest du zurzeit?

Ich bin an einem neuen Projekt zu Wildnis dran, es stützt sich auf drei Säulen: Bekanntmachen, Erhalten und Fördern. Für die Bekanntmachung wollen wir weiterhin den Wert von Wildnis kommunizieren. Wir sind am Aufbau eines grösseren Netzwerks mit verschiedenen Organisationen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Beim Erhalt setzen wir uns für die letzten Wildnisräume ein. Das kann zum Beispiel über Einsprachen oder über Kampagnen laufen. Wir wollen, dass die Räume, die noch unverbaut und naturnah sind, erhalten bleiben. Beim Fördern – das ist der komplexeste und grösste Teil – wollen wir den Wert der Wildnis in den Alpen aufzeigen. Unsere Idee ist, dass man gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung Strategien entwickelt: Wie kann man zeigen, dass die Wildnis einen Wert hat? Wir wollen in einer Region ein Positivbeispiel erarbeiten. Das kann beispielsweise eine Mehrtageswanderroute durch ein Wildnisgbiet sein, die von Rangern betreut wird und somit auch Wertschöpfung in die Region bringt.

Welche Tipps würdest du unseren Leserinnen und Lesern mit auf den Weg geben, um die Wildnis in der Schweiz individuell zu fördern?

Es beginnt damit, unser eigenes Verhalten anzuschauen. Wildnis hat viel mit Loslassen und Vertrauen zu tun. Wie stark setze ich das bei mir selber um? Wenn man einen Garten oder ähnliches hat, muss man dort nicht immer alles jäten und bewirtschaften. Das kann vielleicht ein Quadratmeter sein – ein ganz kleiner Bereich – wo man wagt, der Natur Gestaltungsraum zu geben. Extrem wichtig ist es, achtsam durch den Tag zu gehen, weil man viele schöne Naturerscheinungen im Alltag sehen kann. Das wirkt sich dann auf die eigene Zufriedenheit und die Genügsamkeit aus. Die Genügsamkeit und unser Lebensstil – ich habe einen Artikel über das geschrieben – wirken sich wiederum sehr stark auf Wildnis aus. Wenn ich selber sehr viel konsumiere, hat das Folgen. Für mein Papier werden Bäume gefällt und für mein Fleisch wird Soja angebaut. Mit einem möglichst nachhaltigen, suffizienten Lebensstil kann man indirekt sehr viel bewirken. Ebenfalls über den politischen Einsatz: Es ist entscheidend, wen man wählt oder welche Organisationen man unterstützt. Auch mit dem Tourismusverhalten in den Bergen kann man viel bewegen: Dass man möglichst sanft anreist und eher konzentriert in die Ferien, in die Berge geht, lieber länger und dafür seltener im Jahr.

Vielen Dank für das interessante Gespräch Sebastian Moos!

weitere Informationen:
Mountain Wilderness Schweiz
Rezension Umweltnetz Schweiz: Buch "Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz" von Sebastian Moos /  Sarah Radford et.al

 

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