„Kälber sterben qualvoll“
Ein Bolzenschuss ins Hirn betäubt die Kuh, sie blutet aus. Auf diese Art und Weise schlachten Metzger jährlich knapp 400‘000 Rinder in der Schweiz. Eine Studie des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) hat 2012 für den Laien Undenkbares aufgezeigt: Während einer zweiwöchigen Stichprobe im Schlachthof Oensingen waren rund sechs Prozent der geschlachteten, geschlechtsreifen weiblichen Rinder mindestens im fünften Monat trächtig. Hochgerechnet sind das rund 15‘000 trächtige Tiere im Jahr, die geschlachtet werden, wie das Konsumentenmagazin Saldo schreibt. Es ist anzunehmen, dass auch zahlreiche Tiere geschlachtet werden, die zwischen dem 1. und 4. Monat trächtig sind; diese wurden in der Studie aus praktischen Gründen nicht erfasst, wie es vom BLV heisst. Laut dem Format Panorama 3 auf NDR 1 „gehen Experten davon aus, dass die Kälber einen qualvollen Tod sterben“. Sie verenden einige Minuten später an Sauerstoffmangel. Das Vorgehen von Bauern und Schlachthäusern scheint dabei legal und gebräuchlich: Weder in der Schweiz noch in der EU ist es verboten, Rinder während ihrer neunmonatigen Trächtigkeit zu schlachten. Die Schweiz steht mit diesen Zahlen denn auch nicht alleine da: Eine Studie von 2006 geht von ähnlichen Werten für Luxemburg, Belgien, Deutschland und Italien aus. Es sei ein Verstoss gegen die Würde des Tiers, einem geburtsfähigen Kalb die Chance auf ein Leben zu nehmen und es stattdessen wie Schlachtabfall zu behandeln, meint der Ethiker Christoph Ammann von der Uni Zürich auf Anfrage. „Und dies ganz unabhängig davon, wie man die Frage beantwortet, ob ein Fötus Schmerz empfinden kann oder nicht.“
Wirtschaftliche Faktoren im Vordergrund
Nach den Gründen gefragt, wieso die Kühe zum Schlachthof kamen, gaben Tierbesitzer in der Studie am häufigsten eine gestörte Eutergesundheit oder eine vermeintliche Fruchtbarkeitsstörung an. Auch sonst waren vor allem wirtschaftliche und gesundheitliche Gründe ausschlaggebend. Rolf Hanimann, Präsident der Vereinigung Schweizer Kantonstierärzte, unterstützt gegenüber Saldo diese These: Es sei einfach herauszufinden, ob ein Tier trage. Doch manchmal liefere eine Milchkuh schlechte Milchqualität, der Schlachtpreis sei hoch oder der Betrieb habe Platzprobleme. Solche Gründe gewichteten Viehhalter manchmal stärker. Die Studie zeigt nämlich: Von den 125 Tierbesitzern, die sich den Fragen stellten, waren 36 im Bilde, dass das Rind trächtig zur Schlachtung geführt wurde.
„Wer ein tragendes Tier verkauft, verkauft das Glück.“
Hanspeter Hunkeler, Bauer
Was treibt einen Bauern dazu, eine trächtige Kuh auf die Schlachtbank zu treiben? Der Schweizer Bauernverband (SBV) nimmt in der Sache eine ambivalente Rolle ein. Gegenüber 20 Minuten verurteilt er zwar die Schlachtung trächtiger Kühe. Gleichzeitig nimmt SBV-Sprecherin Sandra Helfenstein die Bauern in Schutz: „Meist wissen die gar nicht, dass die Kuh trächtig ist.“ Die Studie spricht eine andere Sprache.
Falsch negativ diagnostiziert
Um sicher zu wissen, ob ein Tier trächtig ist, ist eine Untersuchung notwendig. Einerseits haben nur 34 Prozent der befragten Landwirte eine solche Trächtigkeitsuntersuchung durchführen lassen. Andererseits wurde laut Angaben der Landwirte die Hälfte davon als falsch negativ diagnostiziert. Diese Bauern brachten die Kühe also scheinbar zum Schlachten im Glauben, diese seien nicht trächtig. Laut Studie erschweren zudem Natursprünge in Gruppen von jungen, zur Schlachtung vorgesehenen Rindern und fehlende Information durch die Vorbesitzer die Bestimmung, ob ein Rind trächtig ist oder nicht.
Was dagegen tun?
Das BLV empfiehlt auf seiner Homepage drei Massnahmen, um die Zahl trächtig geschlachteter Tiere zu senken: 1. Beim Kauf von Tieren Informationen über deren Trächtigkeit einholen. 2. Ungeplante Trächtigkeit durch Herdenmanagement verhindern. 3. Hochträchtige Tiere (über 7 Monate Trächtigkeit) nur im Notfall schlachten. Laut der BLV-Studie ist nämlich nicht nur das Schlachten hochträchtiger Kühe an sich problematisch, sondern bereits der Transport der Tiere. „Ein hochträchtiges Tier sollte nur in Notfällen transportiert werden“, schreiben die Autoren. Der Transportstress könne Schmerzen oder gar den Tod des Kalbes im Mutterleib verursachen. In der EU ist daher der Transport von Mutterkühen in fortgeschrittenem Trächtigkeitsstadium (90 Prozent oder mehr) verboten – die Schweiz kennt keine solche Regelung. Der Transport hochträchtiger Kühe scheint aber nicht ungebräuchlich: In der Studie war mehr als jedes vierte trächtig geschlachtete Rind im 7. bis 9. Monat trächtig. Diese sollten in den Schlachthöfen getrennt zum Schlachten geführt werden, fordert der Schweizer Tierschutz gegenüber Saldo. Der Fötus solle möglichst rasch aus dem toten Muttertier herausgenommen, betäubt und getötet werden. Das BLV unterstützt ein solches separates Schlachtverfahren nicht. Ein Schlachtverbot sei zudem höchstens dann sinnvoll, wenn die Tiere bereits im siebten oder achten Monat trächtig seien.
Das Glück verkauft
Um noch präzisere Aussagen über die Schlachtung trächtiger Rinder machen zu können, müsste die Studie auf das ganze Jahr und Schlachthöfe unterschiedlicher Regionen der Schweiz ausgedehnt werden. Und eine Frage bleibt im Hinterkopf: Was führt dazu, dass fast jeder dritte Bauer in der Studie das trächtige Rind mutwillig zum Schlachthof führte? Gewichteten die Bauern wirtschaftliche Gründe tatsächlich höher als das Leben eines ungeborenen Kalbes? Der Schötzer IP-Bauer Hanspeter Hunkeler vermutet, dass Betriebsleiter zum Teil überfordert seien ob den immer grösseren Betrieben, die mit immer weniger Leuten bewirtschaftet werden. Ein trächtiges Tier verkaufe ein Bauer eigentlich nur im Notfall, sagt er. Oder wie es in seiner Familie seit Generationen heisse: „Wer ein tragendes Tier verkauft, verkauft das Glück.“
Kommentare (0) anzeigenausblenden