Die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege (Venustoraphidia nigricollis) war bereits im Jahr 1999 zum ersten Mal Kandidatin für das „Insekt des Jahres“, als der Titel zum ersten Mal vergeben wurde. Damals verlor sie gegen die Gemeine Florfliege (Chrysoperla carnea), doch dieses Jahr gebührt ihr alle Ehre — und das aus guten Gründen.
Lebendes Fossil
Aus zahlreichen fossilen Funden lässt sich ableiten, dass die Schwarzhals-Kamelhalsfliege schon zu Lebzeiten der Dinosaurier existierte. Damals waren Arten ihrer Ordnung aber weitaus zahlreicher vertreten als heute. Die Kamelhalsfliegen gehören heutzutage zur artenärmsten Ordnung der Klasse der sich verpuppenden Insekten: Weltweit sind nur etwa 250 Kamelhalsfliegen-Arten bekannt. In Mitteleuropa kommen nur 16 Arten vor — eine davon das diesjährige Insekt des Jahres. Lange galt die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege als eine der seltensten Arten ihrer Ordnung, bis Wissenschaftlerinnen erkannten, wo sich die adulten Tiere am liebsten aufhalten — nämlich in der Kronenschicht von Bäumen.
Tummelplatz mitten in Wien
Dereinst flogen Kamelhalsfliegen über die ganze Erde, doch heute sind sie nur noch auf der Nordhalbkugel anzutreffen, da sie für ihre Entwicklung kalte Winter benötigen. Ein ganz besonderes Beispiel eines Vorkommens von Kamelhalsfliegen liegt mitten im Herzen von Wien: Umgeben von brausendem Verkehr haben sich auf dem Maria-Theresien-Platz in der österreichischen Hauptstadt in den dort stehenden Kiefern zwei Kamelhalsfliegen-Arten angesiedelt. Weltweit einzigartig ist auch das jährliche Massenauftreten der schlanken Insekten rund um einen mehrere Hundert Jahre alten Bauernhof in Oberösterreich. Auf 800 Metern Höhe hat sich hier eine aus dem Mittelmeerraum eingeschleppte Art niedergelassen, die im geschlechtsreifen Alter jedes Jahr während der Paarungszeit von Mai bis Juli in grosser Anzahl zu beobachten ist.
Nützlinge im Garten
Die adulten Schwarzhals-Kamelhalsfliegen sind tagaktiv und ernähren sich häufig von Blatt- und Schildläusen. Sie sind somit gern gesehene Nützlinge im Garten. Die in Baumrinden lebenden Kamelhalsfliegen-Larven sind zudem als Gegenspieler von „Schadinsekten“ wie Borkenkäfern nützlich. Bis anhin wird ihre Funktion im Ökosystem jedoch unterschätzt.
Obwohl alle Kamelhalsfliegen schöne glasklare Flügel besitzen, sind sie keine sonderlich guten Fliegerinnen. Sie bewegen sich eher schwirrend, hüpfend und flatternd, weshalb sie keine grossen Strecken zurücklegen können.
Am liebsten naturnahe Wälder
Auch wenn man Kamelhalsfliegen an unerwarteten Orten wie auf alten Bauernhöfen und in Palastgärten antrifft, fühlen sie sich in naturnahen Mischwäldern am wohlsten. Sie benötigen möglichst strukturreiche Lebensräume mit grosser Artenvielfalt, beispielsweise Mischwälder mit Bäumen in unterschiedlichem Alter. Da sie aufgrund ihrer eingeschränkten Flugkapazität standorttreu sind, sind sie auf ausreichend Kleininsekten als Beute angewiesen. Besonders lieb ist ihnen Totholz und sich ablösende Rinde von toten Bäumen, die sie für die Eiablage nutzen.
Botschafterin für wilde Wälder
Naturnahe Wälder kommen in unseren Breitengraden jedoch zu wenig vor. In der Schweiz werden gerade einmal 6,3% aller Wälder der Natur überlassen — der Rest wird für menschliche Zwecke bewirtschaftet. Naturwälder sind deshalb entscheidend, weil sie Organismen, die im Wirtschaftswald zu kurz kommen — wie beispielsweise im Holz lebenden Insekten und Pilzen — eine Heimat bieten. Etwa ein Fünftel aller Tiere, Pflanzen und Pilze im Wald — das sind alleine schon über 6000 Arten — sind auf Totholz als Lebensraum und Nahrungsquelle angewiesen. Heute ist der Anteil an alten und abgestorbenen Bäumen und Totholz in vielen Wäldern viel zu gering — auch für die Kamelhalsfliegen. Ihnen geht immer mehr ihres bevorzugten Lebensraums verloren. So wurde die Schwarzhals-Kamelfliege auf der Roten Liste Deutschlands als «fast bedroht» eingestuft, in Österreich sogar schon als «vom Aussterben bedroht» kategorisiert.
Quellen und weitere Informationen:
Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung: Insekt des Jahres 2022
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