Tschernobyl: Gespensterstadt oder Naturparadies?

Bereits 28 Jahre ist es her, dass im ukrainischen Tschernobyl Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks explodierte und tausende Tonnen radioaktives Material in die Umgebung geschleudert wurden. Der Ort ist noch immer gespenstisch menschenleer – nur Tiere und Pflanzen sind längst zurückgekehrt. Wie ergeht es ihnen heute in Tschernobyl?

Über ein Vierteljahrhundert nach dem Super-GAU ist die radioaktive Strahlung in und um Tschernobyl noch immer rund 1‘000 Mal höher als normal. Menschen meiden das verseuchte Gebiet, die verlassenen Häuser und Strassen verlottern. Von der Abwanderung der Menschen profitiert die Natur. Sie erobert sich die verwahrlosten Plätze zurück; aus Gebäuderissen spriessen Bäume, in Ruinen nisten sich Tiere ein.

Verkommt die vermeintliche Todeszone etwa zu einem Naturschutzparadies? Nicht ganz: Auch auf die Tier- und Pflanzenwelt hat die erhöhte Radioaktivität negative Auswirkungen, insbesondere mit Strahlenschäden und erhöhten Mutationsraten. Ionisierende Strahlung schädigt die DNA direkt, in dem sie gravierende Brüche im Erbmolekül auslöst. Im Genom sammeln sich Mutationen an, die Krebs und andere Krankheiten auslösen können. Eine Gruppe um Anders Møller von der Université Paris-Sud, veröffentlicht seit Jahren in regelmässigen Intervallen Studien zu den Strahleneffekten bei Rauchschwalben. In der Nähe des Reaktors brütende Rauchschwalben weisen demnach doppelt bis zehnfach erhöhte Mutationsraten auf.  Auch Albinismus trete bei 15 Prozent der Tiere auf, verglichen mit nur einem Prozent bei Populationen mit normaler Strahlenlast. Bei verschiedenen Schwalben wurden zahlreiche weitere Missbildungen beobachtet, angefangen von fehlgeformten Füßen über ungleich lange Schwanzfedern bis hin zu Tumoren am Kopf.

Auch bei den Pflanzen wird ein negativer Strahleneinfluss dokumentiert. Die Universität Göttingen kam zum Ergebnis, dass Kiefern im Strahlengebiet generell langsamer wachsen und vielfältige Abweichungen vom normalen Wuchs eines Nadelbaums aufweisen, wie beispielsweise Nadelverfärbungen oder geänderte Verzweigungsmuster.

"Die Abwesenheit der Menschen und das Fehlen ihres störenden Einflusses hat der Natur einen Frieden beschert, der ihr erlaubt hat, zu gedeihen."
Mary Mycio, Biologin

Dennoch sprechen die zahlreich gedeihenden Tier- und Pflanzenarten dafür, dass die Natur offenbar weitaus widerstandfähiger ist, als gemeinhin angenommen wird. Zahlreiche Ökologen glauben gar, dass die Nuklear-Katastrophe für die Natur fast schon einen Glücksfall darstellt, da die Natur von der Abwesenheit der Menschen profitiert. Ausserdem kommen einige Arten mit der hohen Strahlung offenbar besonders gut zurecht:  Die Forscher um Ismael Galván von der Universität Paris-Süd untersuchten über 150 Vögel in und um die Sperrzone des ehemaligen Atomkraftwerks im Norden der Ukraine. Erfasst wurden Tiere 16 verschiedener Arten wie Amsel, Rauchschwalbe und Kohlmeise. Vögel, die an Orten mit höherer Strahlenbelastung gefangen wurden, hatten eine besonders hohe Konzentration des Antioxidans Glutathion im Blut, das negative Effekte der Strahlung ausgleichen kann. Außerdem wiesen die Tiere – im Mittel aller Arten – weniger DNA-Schäden auf und waren größer. Zwar haben Forscher unter anderem bei Karpfen und Mäusen bleibende Strahlenschäden und Mutationen entdeckt, missgebildete Tiere wurden jedoch keine gefunden. Auch die Lebenserwartung der verstrahlten Tier lag genauso hoch wie bei ihren unverstrahlten Artgenossen. Eine Erklärung dafür liege möglicherweise darin, dass Tiere mit den schwersten Mutationen nicht lange überlebten und die schädlichen Veränderungen im Erbgut somit nicht weitervererben konnten. Ausserdem sei die Krebsrate bei Wildtieren allgemein relativ klein, da sie gar nicht alt genug werden, als dass der Krebs ausbrechen könne, vermutet Jim Smith vom Zentrum für Ökologie und Hydrologie in Großbritannien.

Tiere aber auch Pflanzen reagieren offenbar sehr unterschiedlich auf die Strahlung: Während einige krank werden  oder sterben, schaffen es andere, sich selbst vor der Radioaktivität zu schützen. Auch bei Pflanzen wie der Kiefer fanden die Forscher der Universität Göttingen an vielen Stellen des Genoms Veränderungen, die als Anpassung auf die erhöhte Strahlung zu sehen sind. 

Ein ökologisches Monitorings zwischen 2006 und 2009 kam allerdings zum Ergebnis, dass in besonders belasteten Arealen die Biodiversität abgenommen hat und die Häufigkeit von Insekten, Spinnen, Vögeln und Säugetieren kleiner ist als in weniger oder gar nicht belasteten Gebieten. Von einem Naturparadies kann also nicht wirklich die Rede sein – ganz abgesehen davon, dass das Gebiet für Menschen noch während Jahrhunderten unbewohnbar bleiben wird.

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