Chief Seattles Mahnung: Eine kleine Umwelt-Geschichte

Häuptling Seattle ging es in seiner Rede hauptsächlich um die Verteidigung der Grabstätten seiner Ahnen Häuptling Seattle ging es in seiner Rede hauptsächlich um die Verteidigung der Grabstätten seiner Ahnen

Inspirierend, kraftvoll, oft zitiert: Die Rede des Häuptling Seattle ist in die Geschichte der Umweltbewegung tief eingeschrieben. In Wahrheit ist ihre Geschichte eine wechselvolle, und Chief Seattle selbst war Umweltschutz noch kein vorrangiges Anliegen.

 

„Die Erde gehört nicht dem Menschen, der Mensch gehört der Erde“ sprach der alte Chief Seattle. Er war ein beeindruckender, würdevoller Mann, über einen Meter achtzig gross und hoch angesehen bei seinen Leuten von den Stämmen der Suquamish und Duwamish. Seine Stimme, so heisst es, trug eine Meile weit. Wenn er also sprach, dann hörte man zu, und so tat es am 11. März 1854 auch der Gouverneur Isaac Ingall Stevens auf dem Boden jener Stadt, die später den Namen des berühmten Häuptlings tragen sollte. „Alle Dinge sind verbunden; wie das Blut, das eine Familie eint. Alle Dinge sind miteinander verbunden…“ sprach er weiter. Oder… tat er das?

Worte wie Wellen: Machtvoll und erfrischend…

Die Rede des Häuptlings Seattle hat sich längst tief in der Ökologiebewegung eingewurzelt. Es ist ja auch eine grossartige Rede! Brillant in ihrer Einfachheit, berührend in ihren Bildern und beunruhigend in ihrer Scharfsicht der Verrücktheiten des Weissen Mannes, inspirierte sie Generationen von Naturschützerinnen. Ein kleiner Schönheitsfleck ist allenfalls, dass sie ganz gewiss in Abschnitten, vermutlich aber zu meisten Teilen so nicht geäussert wurde. Aber beginnen wir von vorn:
Sehr wahrscheinlich, dass im Jahr 1854 der damals bald siebzigjährige, katholisch getaufte Älteste Noah Seattle (Si’ahl) anlässlich einer Anhörung vor Isaac Stevens eine Rede hielt. Er war, wie gesagt, ein angesehener Mann, nicht zuletzt auch bei so einigen der Siedler im Staate Washington. Etwas zweifelhafter dann, dass der spätere Überlieferer seiner Worte, Henry A. Smith, tatsächlich dabeisass – wir lassen es aber einfach mal gelten. Ein erstes belangreiches Problem stellt sich, wenn wir wissen, dass Seattle höchst wahrscheinlich in seiner nativen Sprache Lushootseed referierte. Die wurde dann üblicherweise in die indianische Handelssprache Chinook und dann weiter ins Englische übersetzt. Dass dies in solch wohlgesetzte Worte mündete, mag fragwürdig scheinen: Es findet aber seine Erklärung darin, dass der Arzt und Unternehmer Henry A. Smith sich über dreissig Jahre Zeit liess, die Rede in ihrer ersten Form aus seinen Notizen zu übertragen und zu veröffentlichen. Seattle war da schon zwanzig Jahre tot, und dass Smith dessen Vortrag gründlich bearbeitet hatte, verriet sich schon an der blumig viktorianischen Sprache, in der er ihn abfasste. Gleichwohl müssen wir nicht voraussetzen, dass die Rede indessen aller ursprünglichen Intentionen des Häuptlings ledig war. Smith stand in Kontakt mit den ansässigen Indianern und konnte sich in ihrer Sprache mit ihnen unterhalten.

Heutige Leser wird diese früheste Version der Rede dennoch enttäuschen. Von den ökologischen Botschaften, die wir mit ihr verbinden, ist darin nichts zu finden. Stattdessen bemüht sich Häuptling Seattle, seinem Volk den Zugang zu den Grabstätten ihrer Vorfahren zu erhalten – was in den späteren Versionen noch in den wiederkehrenden Verweisen auf seine Ahnen und die Heiligkeit des Landes anklingt. Er beklagt in erschütternder Gefasstheit den Niedergang seines Volkes und setzt diesen in Bezug zu den Rhythmen des Lebens. Und geradezu verdächtig zeichnet ihn der Tonfall der Rede als einen Vertreter der First Nations, wie man ihn sich zu jener Zeit von Seiten der Siedler erhoffte: Halb stolz, halb unterwürfig – ein würdevoller Besiegter.

…ständig wiederkehrend, ständig wachsend…

Smiths Fassung des Textes wurde noch einige Jahrzehnte abgedruckt; mit gelegentlichen Zufügungen, wie sie den Editoren gerade passend erschienen. Dann verschwand die Rede in der Versenkung, bis sie in den 1960ern die Aufmerksamkeit des Philologen und Übersetzers William Arrowsmith an der University of Texas erregte. Der befreite sie von Smiths Manierismen und übertrug sie in modernes Englisch im Versuch, sich Seattles ursprünglichen Intentionen und Weltbild anzunähern. Er strich im Zuge dessen heraus, wie der Chief offenbar mit dem europäischen Konzept des Landeigentums rang, das ihm aus seinem Hintergrund kaum fassbar war. Für derlei Hinterfragungen war unterdessen die Zeit gekommen.

Ende der Sechziger befand sich die erste Ökologiebewegung im vollen Schwange, die Jugend rüttelte am Status Quo. Ein Freund Professor Arrowsmiths, der Drehbuchautor Ted Perry, fand in dem Text die Inspiration für die Tonspur eines Umweltfilms, der von der Southern Baptist Congregation in Auftrag gegeben worden war. Er brachte den Text in die Form, die wir heute kennen. Dabei nahm er sich all die künstlerischen Freiheiten, die seinem Handwerk geläufig sind, und produzierte auch Fehler – wie etwa den Verweis auf Bisons, die nicht zu Seattles Lebensumfeld gehörten. Er wollte hingegen keine Fälschung erschaffen: Er kennzeichnete den Text als seinen eigenen und erkannte das Ansinnen, dem ehrwürdigen Häuptling Worte in den Mund zu legen, als „überheblich, wo nicht gar rassistisch“. Das Produktionsbüro indessen strich im Versuch vermeintlicher Authentizität seinen Namen aus Film und Werbeplakat, und fürderhin sprach Chief Seattle aus den Tiefen der Zeit zu Umweltbewegten in aller Welt. Dass er sich dabei als einen „Wilden, der nicht versteht…“ bezeichnet, ist dann schliesslich noch den Baptisten geschuldet.

…an fernen Stränden verebbend

So weit, so nachvollziehbar. Warum aber beschäftigt uns das? Damit wir uns gleich recht verstehen: Diese Dekonstruktion soll uns nicht dazu dienen, das ökologische Bewusstsein und den Umweltaktivismus von aktuellen Vertretern der First Nations abzuwerten. Warum sollten wir… Gleichwohl scheint uns der Nachruhm der Rede zwiespältig. Zum einen ist da ihr unstrittiger Inspirationsgehalt. In ihrer wuchtigen Botschaft hat sie mal für mal Risse in die Mauern der eingefahrenen „westlichen“ Weltbilder und Wertvorstellungen geschlagen. Und insbesondere in ihrer Infragestellung unserer Beziehung zur lebendigen Welt, die sich vorwiegend über Eigentumsverhältnisse definiert, fände sie möglicherweise auch das Einverständnis ihres ursprünglichen Absenders. Zugleich ist sie aber unseren Lebensverhältnissen fern genug, dass sie gemütlich folgenlos bleiben kann. Sie beschwört Bilder einer verschwundenen Welt, seitab in Raum und Zeit; einem ökologischen Shangri-La, golden, unerreichbar am Horizont. Und die Zuschreibung einer besonderen ökologischen Weisheit an „die Indianer“ macht dann handkehrum auch immer gleich klar, dass wir selbst keine sind…
Ted Perry selbst erkannte diese verzerrte Interpretation seines Textes als problematisch und versuchte seit den Siebzigern des letzten Jahrhunderts mehrfach, die Dinge geradezurücken. Nachdenklich stimmt, wie hartnäckig die ökologische Bewegung sich weigerte, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Fast scheint es da, es könne nicht sein, was nicht sein darf... Nachdem – zu Recht – festgestellt war, dass der industrialisierte Westen, die Konsumgesellschaft, allenthalben der Materialismus für den Löwenanteil der gegenwärtigen ökologischen Verheerungen verantwortlich war: Wie konnte es angehen, dass ein Mitglied genau dieser Gesellschaft in einem Moment der Inspiration solche berührenden Worte dahingehend fand? Doch diesem Gedanken liegt ein dualistisches Entweder-Oder zu Grunde, das uns nicht allzu weit führt. Es verschleiert, dass praktikable Lösungen für ökologische Missstände mit Vorteil aus jenen Verhältnissen erwachsen, denen sie entstammen. Und es begünstigt im schlimmeren Fall jene pessimistische Hilflosigkeit, die die Rückkehr zu einem romantisierten „Naturzustand“ zwar als hoffnungslos erkennt, darin aber den einzigen Ausweg erachtet.

Tatsächlich verteilen sich ökologisches Bewusstsein und die Einsicht in den Wert der Natur ja recht ausgeglichen über die Völker und Kulturen. Man muss nicht weit suchen, um derlei Weisheit zu finden: Hans Carl von Carlowitz und Rachel Carson kommen etwa in den Sinn, Frederik Vester, David Attenborough… oder auch die Gemüsegärtnerin im nahen Schrebergarten? Ein Unterschied ergibt sich allenfalls daraus, dass wir vor ihren Argumenten nicht in statischer Entrückung stehen, sondern sie durchaus auch hinterfragen dürfen. Um unseren Weg durch die anstehenden, komplexen Herausforderungen zu finden, wird sich diese Fertigkeit als unentbehrlich erweisen.

 

 

 

Quellen und weitere Informationen: 
Chief Seattle's Speech (Version Henry A. Smith, engl.)
Häuptling Seattles Rede (Version Ted Perry, dt.)
Überblick über die Versionen: Washington State Library
Ted Perry zu seiner Version der Rede

 

 

 

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