Der Klimaschutz gewinnt in Europa zunehmend an Fahrt. 2020 präsentierte die EU-Kommission den European Green Deal, der bis 2050 eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen auf Netto-Null vorsieht. Im vergangenen Jahr einigten sich die EU-Staaten darauf, den CO2-Ausstoss anstatt um 40% gegenüber dem Vergleichsjahr 1990, nun neu bis 2030 um 55% zu senken.
Für die fossile Energiebranche sieht es also schlecht aus — oder das könnte man glauben. Sie haben jedoch eine Geheimwaffe: Den Energiecharta-Vertrag (engl. Energy Charter Treaty; ECT). Mithilfe dieser Vereinbarung können Unternehmen gegen die Klima- und Umweltschutz-Massnahmen eines Staates klagen, wenn diese ihre Profite schmälern.
Strafgelder für Klimaschutzmassnahmen?
Der Energiecharta-Vertrag trat 1998 in Kraft und sollte ursprünglich einen Anreiz für Energiekonzerne schaffen, in Entwicklungsländern zu investieren. Mittlerweile wird der Vertrag allerdings von Energiekonzernen missbraucht, um Staaten zu verklagen, die klimafreundliche Gesetze erlassen. Denn im Vertrag werden Investitionen in Kohlebergwerke, Öl- und Gasförderung, Pipelines, Raffinerien und Kraftwerke geschützt. Ein Staat kann im Rahmen des Vertrags Klimaschutzgesetze vorantreiben. Damit drohen ihm allerdings milliardenhohe Klagen, für welche die Steuerzahlenden aufkommen müssen. Eine Klimaschutzmassnahme kann sich nämlich auf den erwarteten Gewinn des Investors auswirken.
Verhandelt wird bei den Verfahren vor internationalen Schiedsgerichten, die meist im Geheimen tagen. Im Rahmen von privat einberufenen Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren (ISDS) entscheidet sich, ob und wie viel Entschädigung dem fossilen Energiekonzern zusteht. Diese Verfahren dauern meist mehrere Jahre und verhandeln über immense Geldsummen. Eine umfangreiche Recherche von «Investigate Europe» zeigt, dass der ECT die EU-Staaten in den kommenden Jahren viele hunderte Milliarden Euro kosten und den Klimaschutz stark verzögern könnte. Aus Angst vor den hohen Entschädigungszahlungen sei eine Aufweichung von Klimagesetzen wahrscheinlich. Berechnungen von «Investigate Europe» zeigen, dass sich der durch den ECT geschützte Wert von Öl- und Gasfeldern, Kohlekraftwerken und -minen, Gaskraftwerken, Pipelines und Flüssiggas-Terminals in der EU, Grossbritannien und der Schweiz auf stolze 344,6 Milliarden Euro summiert.
Schweiz und Grossbritannien stellen sich quer
Im Dezember 2020 haben sich über 150 Energie- und Klimaexperten mit einem offenen Brief an die Regierungen der EU-Staaten gewendet und die Abschaffung des ECT verlangt.
Der Schweizer Bundesrat setzt sich aber lediglich für eine Modernisierung des Abkommens ein und will damit transparente Schiedsgerichte und eine Ausdehnung des Vertrags auf erneuerbare Energie-Technologien herbeiführen. Die hohen Klagen gegen die Staaten mit Klimaschutzgesetzen können damit aber nicht abgewendet werden. Fabian Molina von der SP reichte deshalb bereits im vergangenen März eine Motion für den Austritt der Schweiz aus dem Energiecharta-Vertrag im Nationalrat ein. Der Bundesrat beantragte jedoch die Ablehnung der Motion mit der Begründung, der „Ausstieg widerspräche dem Mandat und den Interessen der Schweiz“ und der ECT würde keine Mitgliedstaaten daran hindern, eine ambitiöse Energiepolitik zu verfolgen.
Aktivisten werfen nun der Schweiz und Grossbritannien vor, die von der EU angestrebte Reform des Vertrags zu untergraben. Beide Länder würden die Pläne der Europäischen Kommission, den Schutz für Investitionen in fossile Brennstoffe aufzuheben, nicht unterstützen. Sie wären auch nicht dazu bereit, aus dem Vertrag auszusteigen, wenn die Reform abgelehnt würde. Paul de Clerck von «Friends of the Earth» erklärt gegenüber «Climate Home News»: „Anwälte raten ihren Kunden, ihre Investitionen in Länder umzulenken, die den Schutz von Investitionen in fossile Brennstoffe nicht auslaufen lassen, damit sie weiterhin Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren einleiten können. Grossbritannien und die Schweiz scheinen darauf abzuzielen, zu solchen „Anlaufstellen“ zu werden“. Dies zeige, wie „pervers“ dieses System sei. Beide Länder würden dem Schutz der Erdölkonzerne den Vorrang vor der Bekämpfung des Klimawandels geben.
Klagen nehmen zu
Beispiele für solche Verfahren gibt es schon einige — und es kommen jedes Jahr neue hinzu. Erst Mitte Januar änderte Slowenien seine Vorschriften, um das Fracking-Verfahren zur Erdgasgewinnung zuzulassen, nachdem ein britisches Erdgas-Unternehmen mit einer Klage gedroht hatte.
Auch die einseitige Aufkündigung des Abkommens ändert daran vorerst nichts. Italien machte bereits 2016 den Anfang und verliess die Energiecharta. Das hindert Energiekonzerne jedoch nicht daran, das Land auch künftig zu verklagen. Denn im Rahmen der sogenannten „Zombie-Klausel“ können Staaten auch 20 Jahre nach ihrem Austritt aus dem ECT noch für Entscheidungen, die die Gewinne von Investoren schmälern, haften. Nur wenn alle involvierten Staaten den gemeinsamen Austritt vollziehen, können die Konzernklagen unterbunden werden.
Quellen und weitere Informationen:
Investigate Europe: Wie Schiedsgerichte Europas Klimaziele bedrohen
Bundesversammlung: Motion „Für die Energiewende. Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag“
Climate Home News (25.01.2022): UK, Switzerland accused of undermining EU green treaty reforms
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